Allgemein, Michaels Soccer World
Schreibe einen Kommentar

Kolumbien – Auf den Spuren des Fußballs (Teil 6)

Medellin_9_HEADER

Atlético Nacional vs. Millonarios 1:0

Estadio Atanasio Girardot, Medellín

46.000 Zuschauer (ausverkauft)

Copa Colombia, Finale (Rückspiel)

17.11.2013

Nach ein paar Tagen der Entspannung war es nun an der Zeit nach Medellín zurückzukehren. Das Spiel des Jahres stand schließlich an. Die beiden größten Vereine des Landes, die gleichzeitig die größte Rivalität pflegen, standen sich im Rückspiel des Pokalfinales im Atanasio gegenüber. Den Vorverkauf in Medellín konnte ich nicht nutzen, da ich ja andernorts unterwegs war. Die Partie war freilich längst ausverkauft. Und meine Kontaktperson vor Ort, eine junge Dame aus dem Fanshop, die mir versprach ein Ticket für mich zurückzulegen, war plötzlich nicht mehr erreichbar. So checkte ich zunächst wieder in die bewährte Unterkunft ein und fuhr mit der Metro zum Stadion, um die Lage zu prüfen. Lange Rede, kurzer Sinn: 20 Euro für einen Platz im Oberrang der Gegengeraden fürs Pokalfinale war absolut in Ordnung. Das waren zwar immerhin 50% Aufschlag auf den Originalpreis, aber ich will ja nicht klagen.

Medellin_2_670

Das Hinspiel in Bogotá ein paar Tage zuvor verfolgte ich in einer Bar in Salento. Nacional war bereits 2:0 in Führung gegangen, musste sich aber am Ende mit einen 2:2-Unentschieden begnügen. Die zähen Einlasskontrollen vom letzten Besuch noch in bester Erinnerung, erschien ich rechtzeitig, um mich ins Getümmel zu stürzen. Und das war auch notwendig: Drei Stunden vor Anstoß am Stadion und erst eine Stunde später auf meinem Platz. So konnte ich mir aber immerhin einen guten Platz aussuchen (denn die auf den Tickets aufgedruckten Reihen und Platznummern interessieren hier wirklich keinen) und in aller Ruhe die Vorbereitungen auf den Tribünen beobachten. Da wurde nämlich schon fleißig geschmückt. Nach und nach füllte sich die Arena und eine Stunde vor Spielbeginn war kein freier Platz mehr auszumachen. Die Massen strömten aber weiter herein, und so waren letztlich sämtliche Treppen, Zugänge und Fluchtwege mit Menschen vollgepackt. Alle wollten dabei sein: Ganze Familienclans von der Oma bis zum Kleinkind. Zu diesem Zeitpunkt wurde schon ordentlich gesungen und die Stimmung war lange vor Anpfiff weit besser als bei vielen Topspielen in Europa während des Spiels.

Medellin_4_670

Die Barra „Los del Sur“ hatte wohl etwas Besonderes vor, denn da versammelte sich der harte Kern vor der Tribüne im Innenraum. Viele davon mit nacktem Oberkörper, was dem Klima geschuldet sein mag oder dem Verlangen, dass die Tätowierungen besser zur Geltung kommen. Es wurden Geräte ausgegeben, die von weitem wie Feuerlöscher aussahen. Und damit positionierten sich die Jungs rund ums Spielfeld. Der Rest der Gruppierung sorgte auf den Tribünen mit Trommeln und Blasinstrumenten für Rhythmus und Melodie. Nur noch wenige Minuten bis die Mannschaften das Spielfeld betreten sollten. Es bot sich ein Fahnenmeer, das seinesgleichen sucht, optisch unterstützt von vielen Regen- bzw. Sonnenschirmen. Mittlerweile waren weiße und grüne Ballons verteilt worden, die eine ansehnliche Choreographie ergaben, die alle Sektoren mit einbezog. Die frenetischen Gesänge wurden von Sekunde zu Sekunde lauter. Keinen hielt es jetzt mehr auf den Sitzen, und das sollte sich auch bis Spielende nicht mehr ändern. Hier war im „Familienblock“ auf der Gegengerade mehr los als in manch einer Ultrakurve zuhause. Als die Teams dann endlich auf den Rasen kamen, gab es kein Halten mehr. Ein minutenlang anhaltender Konfettiregen wie einst 1978 in Argentinien, und gerade als sich dieser zu legen drohte, kamen die vermeintlichen „Feuerlöscher“ zum Einsatz. Damit wurde schön grüner und weißer Rauch in die Luft geblasen. Der Lärmpegel war auf eine Niveau angestiegen, dass kaum jemand vernahm, dass wohl schon seit ein paar Takten die Nationalhymne gespielt wurde. Aber auch das interessierte nicht wirklich irgendjemanden.

Medellin_6_670

Nachdem das Spielfeld erst mal vom ganzen Papier befreit worden war, konnte es auch auf dem Rasen los gehen. Und das Spiel war dann tatsächlich auch einem Pokalfinale würdig. Es ging hin und her, mit guten Torchancen auf beiden Seiten. Nacional war insgesamt aber leicht überlegen. Mitte der ersten Hälfte setzte mal wieder ein heftiges Gewitter ein, was die Stimmung auf den Rängen zeitweise etwas dämpfte. Viele stülpten sich jetzt weiße Plastiksäcke über, um bloß nicht nass zu werden. Irgendwie scheinen die lieben Kolumbianer da empfindlicher zu sein als der abgehärtete Germane. Ich war zwar klatschnass, aber für mich war immer noch T-Shirt-Wetter. Ein warmer Schauer bei 22°C schadet ja auch nicht wirklich. Und genau in dieser Phase fiel in der 35. Minute das spielentscheidende 1:0. Die Müllbeutel wurden zusammengeknüllt und in die Luft geworfen. Der Regen war plötzlich wieder Nebensache. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, viele weinten, lachten und schrien gleichzeitig. Alles sehr emotional. Das Spiel aber blieb spannend. Die Millos gaben sich noch längst nicht geschlagen und kamen auch in der zweiten Hälfte mehrfach bedrohlich vors Tor. Je näher aber der Schlusspfiff rückte, desto euphorischer wurde die Stimmung. Und immer wenn ich dachte, es wäre keine Steigerung mehr möglich, wurde ich aufs Neue überrascht. Es wurden jetzt vermehrt Schmäh- und Hohngesänge gegenüber den Millionären aus der Hauptstadt zum Besten gegeben, allem voran das mit wahnsinniger Inbrunst intonierte „Un minuto de silencio para Millos que esta muerto“ (eine Schweigeminute für Millos, die tot sind).

Medellin_1_670

Das Spiel wurde dann endlich auch mal abgepfiffen, und die Party konnte jetzt richtig losgehen. In den Straßen Medellíns herrschte Ausnahmezustand. Alles voller feiernder Menschen. Für Pkw oder Taxis war kein Durchkommen mehr. Wer heute in Stadionnähe geparkt hatte, konnte seinen Wagen frühestens am nächsten Morgen abholen. Bier und Aguardiente flossen in Strömen, und es wurde auch einiges an Feuerwerk in den Himmel gejagt. Die Metro hatte vorsichtshalber gleich mal den Betrieb komplett eingestellt. Und ohne mich groß in der Gegend auszukennen, sah ich mich gezwungen erst mal ein paar Blocks weiterzulaufen, in der Hoffnung auf eine Straße zu treffen, in der vielleicht noch Taxis und Busse verkehren. Im Dunkeln als Gringo durch unbekannte Viertel einer Stadt wie Medellín herumzuirren ist sicherlich nicht das Schlauste, aber Alternativen gab es nun mal auch keine. Unsicher fühlte ich mich aufgrund der vielen feiernden Menschen aber auch nicht. Kein Abend des Jahres wäre für so eine Übung wohl besser geeignet als eben dieser.

Medellin_7_325 Medellin_3_325

Schließlich erreichte ich eine Bushaltestelle an einer Straße, an der tatsächlich noch Straßenverkehr stattfand. Und sogar ein paar auf den Bus Wartende gab es hier. Wie sich herausstellen sollte, befand ich mich aber an einer Nord-Süd-Verbindung und ich wollte schließlich Richtung Osten nach San Antonio. Der Versuch, eines der vorbeifahrenden Taxis anzuhalten, wäre aussichtslos – so meinten zumindest die an der Haltestelle Wartenden. Ich ließ mich aber nicht beirren, bewegte mich gefährlich nahe in die Mitte der großen Durchgangsstraße, und schaffte es letztendlich doch einen der gelben Flitzer anzuhalten. Kaum öffnete ich die Tür, um einzusteigen, sauste auch schon einer der eben Befragten herbei und fragte, ob er mitkommen könne. Aber klar doch. Gut gemeinte Sicherheitshinweise wie „niemals mit einem Fremden ein Taxi teilen“ waren mir längst egal. Da hat’s der Gringo den Einheimischen mal gezeigt wie das mit den Taxis funktioniert. Unser Fahrer konnte gar nicht glauben, dass sein Verein auch in Deutschland einen Fan hat. Und dann lief im Radio auch noch die Vereinshymne „El pregon verde“: Wir drehten lauter, streckten die Fäuste aus dem Fenster und brüllten mit.

Medellin_8_670

Ein geiler Tag. Und vielleicht mein bisher bestes Stadionerlebnis. Natürlich mit Ausnahme von SV Meppen – TSV 1860 am 11.6.1994.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert