Und plötzlich sind sie da. Nicht 20, nicht 100, nicht 1.000. Nein 4.000-5.000 sollen es laut vorsichtiger Schätzung unseres Nationalpark Guards Saskia sein. Von Westen, von Norden, von Osten fallen sie über den Rederangsee ein und ich bin völlig verzaubert. Ich glaube guten Gewissens sagen zu können, solch ein Naturschauspiel noch nie in Deutschland erlebt zu haben, so wie ich überhaupt noch nie eine geführte Tour in die Natur in meiner Heimat gemacht habe. Ich habe Adler und Reiher in zahlreichen afrikanischen Nationalparks fotografiert, aber eine Tour in den Nationalparks Deutschland war mir zugegebenermaßen immer etwas suspekt. Ich erwartete in Jack Wolfskin gekleidete Ü60er und wurde nicht enttäuscht. Wir mischten uns einfach mal in jovialer Frische unter das betagtere Völkchen.
Je mehr wir uns den Aussichtspunkt am Rederangsee nähern, desto mehr müssen wir unsere Lautstärke zügeln. Schließlich ist Sprechen und Rascheln völlig untersagt. Nur das Klicken der Kameras ist noch mit Augenzwinkern genehmigt und setzt dem Trompeten der Zugvögel etwas entgegen. Denn Kraniche sind äußerst empfindlich. Zudem sollen sie auf jeder Feder ein Auge tragen, das sie vor Eindringlinge warnt.
So kam es auch, dass die Vogelwelt in diesem Teil des Müritz NP vor zehn Tagen aus dem Gleichgewicht geriet, als sich ein Fotograf heimlich in das Schilf geschlichen hatte und die Kraniche verängstigte. Eine Woche sollte es dauern, bis sie wie gewohnt abendlich den Rederangsee wieder ansteuerten. Wir hatten Glück, kann man also sagen. Denn die Sensibilität der Kraniche ist auch Grund dafür, dass seit nunmehr neun Jahren von August bis Oktober täglich ab 16 Uhr nur geführte Touren mit max. 130 Teilnehmern am Seeufer gestattet sind. Und das ist wiederum der Grund, weshalb wir uns nun seit zwei Stunden auf dieser geführten Tour befinden.
Mucksmäuschenstill ist es, als die Kraniche schon 15 Minuten nach unserer Ankunft im Beobachtungspunkt von allen Seiten über den Rederangsee auftauchen, um dann abzudrehen und sich auf einer der benachbarten Wiesen niederzulassen. Leider kann man diese nicht einsehen. Ich lasse die Gedanken gleiten – nach Afrika. Einst waren wir in Uganda auf einer Safari, spazierten ein wenig durch den NP Murchison Falls umher, als neben uns ein Geländewagen hielt und fünf britische Rentner vollausgestattet für eine Vogelexkursion mehr recht als schlecht ausstiegen. Ein älterer Herr konnte nicht mal mehr gehen, aber sicherlich war Afrika und Birdwatching seine wahre Passion. Nur so konnte ich es mir erklären, dass der Mann hilflos und gestützt diese Reise unternahm.
Wir liefen weiter, als wir hinter uns eine wahre Zwitscherorgie erlebten. Wir fragten uns, welch Anziehungskraft diese britischen Birdwatcher auf die Vögel hatten, dass diese in solch ein Konzert einstimmten. Der nähere Blick verriet das Geheimnis. Die britischen Senioren hatten ein Tonbandgerät aufgestellt, das die realen Vögel anlocken sollte.
Mit solchen Tricks wird hier nicht gearbeitet. Saskia berichtet von anderen Stellen in Deutschland, an denen so viele Kraniche rasten, dass die natürlichen Speisen nicht mehr ausreichen. Also wird Mais gestreut und die Vögel verlieren ihre natürliche Scheu. Unsere Kraniche hier sind jedoch scheue Vögel. Immer wieder zeigen sich kleinere Kranichgruppen, aber keine möchte im See landen.
Und dann eine Stunde nach unserer Ankunft, setzt das ein, was ich bei Sonnenuntergang in den Urwäldern dieser Welt so liebe. Ein wahres Konzert. Zeitgleich Bilder wie in Hitchcocks „Die Vögel“. Riesige Schwärme brechen über uns herein, immer wieder tauchen am Horizont riesige Gruppen auf, die dieses Mal alle die Ostseite des Sees ansteuern. Ja, sie sind gekommen, um zu bleiben. Wenigstens für diese Nacht. Zwei Wochen sollen die Durchzügler in der Regel ausharren, bevor sie weiter gen Süden ziehen. Die Einheimischen sind längst Richtung Linum in Brandenburg weitergezogen, „unsere Kraniche“ stammen nun aus Polen und Skandinavien. 10.000 kommen da schnell zusammen. Über 280.000 sollen jährlich über Deutschland hinwegziehen.
Wie im Taubenschlag geht es zu. In das hektische Gekreische mischt sich immer wieder das Röhren von Rotwild. Einen Hirsch haben wir am Ufer erblickt, der nur durch das Fernglas zu erspähen ist, aber immerhin. Der Nationalpark bebt. Noch wenige Wochen wird sich dieses Spektakel wiederholen, bevor die meisten Kraniche im Familienbund gen Süden aufbrechen und Länder wie Spanien und Frankreich ansteuern. Immer näher versuchen sie am heimischen Nest zu bleiben, damit sie flink wieder mit der nächsten Brut beginnen können. Denn auch die Vögel des Glücks haben nicht immer Glück und es heisst: „Nur die Schnellsten siegen.“.
Die Touren können beim Nationalpark Service erworben werden. Sie starten aktuell allabendlich 16.30 Uhr in Federow. Das Ticket für Erwachsene kostet 7,50 EUR. Die Anmietung eines Fernglases kostet 5 EUR. Kleiner Tipp, ziehen Sie sich warm an!
PS: Und weil es so viel Spaß gemacht hat, möchte ich mir nun noch einmal so ein Erlebnis in den Linumer Teichen ansehen. Kleine Fluchten war schon dort und berichtet hier darüber.
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