Allgemein, Momentaufnahmen
Schreibe einen Kommentar

Schritte

Beelitz Heilstätten

Und plötzlich ist man allein. Der Duft eines Krankenhauses zieht durch das Gemäuer, Türen fallen unregelmäßig ins Schloss, Schritte schlurfen durch die Gänge. Anspannung macht sich breit – bei mir und den anderen Patienten. Ich kehre in mein inneres Gefängnis. So ungefähr muss es sich anfühlen, wenn man nach einem Urteil seine Zelle bezieht. Wenn einen wenige Worte ersticken, einen aus dem reißen, was das Leben ausmacht. Düfte, Geräusche, Geschmäcker intensivieren sich dort, wo das Äußere nicht existiert. Der Zeiger der Uhr tickt langsam. Die Welt zieht in Zeitlupe vorbei. 

Der Mann neben mir greift immer wieder die Hand seiner Frau, die ängstlich auf den Boden schaut. Ruhige Worte der Hoffnung flüstert er ihr ins Ohr – gerade so laut, dass sie mich noch erreichen. Sie leiden zu zweit für einen. Ich versuche mich etwas abzuwenden, lausche dem Rascheln des Magazins, das die Patientin links neben mir wahllos durchblättert. Ihre meditative Art mit dem, was auf uns zukommt, umzugehen. Wir warten auf unsere Diagnosen – gemeinsam und doch auch jeder für sich allein. Nur das Paar rechts neben mir hat einander. 

Es sind die Minuten, die ein Leben plötzlich aus den Fugen reißen können. Was man all die Jahre auf einem festen Fundament geglaubt hat, kann sich plötzlich lösen und mit wenigen Worten einstürzen. In diese angespannte Stille fällt ein Name hinein, der seit 39 Jahren an mir haftet und der mich doch in dem Moment, als er die Leere füllt, zusammenzucken lässt. Der Gang vom Warteraum in das Sprechzimmer erscheint mir endlos und doch sind es nur wenige Schritte. Schritte, die meinen erstarrten Körper wieder aufladen, wie eine Batterie den Duracell-Hasen. 

Beelitz Heilstätten

Ich trete dem Arzt übertrieben freudig gegenüber, als würde dort, wo ein Lachen den Raum füllt, kein Platz für schlechte Nachrichten sein. Mein kindlich naiver Umgang mit der Situation, die andere mit einer gehaltenen Hand meistern. Der Arzt fragt nach, was mich so optimistisch stimme, und  ergänzt zugleich, hier sei schon manch einer unbeschwert auf die Liege gegangen und hätte unter Tränen den Raum verlassen. Mein Lachen wird von einer bedrückenden Stille abgelöst.

Das Gedankenkarussel ist nicht mehr aufzuhalten. Wieder fällt eine Tür ins Schloss, erneut tönt ein schlürfendes Geräusch durch den Flur. Jedes Geräusch wird durch einen Verstärker gejagt, jede Berührung empfinde ich wie einen Schlag. Der Arzt räuspert sich nach endlos wirkenden Minuten und erklärt zugleich sein Schweigen. Er wolle sicher gehen. Es ist dieser Augenblick, in dem man Mimik und Gestik zu lesen beginnt, in dem jedes Zucken um die Augen die Geschwindigkeit im Kopf erhöht, bis einen die Gedanken herausreißen und man auf den Boden fällt. Worte entscheiden über das, was kommt.

Beelitz Heilstätten

Mein Fundament ist stabil, noch einmal Glück gehabt. Als ich den Raum verlasse gibt mir der Arzt noch mit auf den Weg, ich solle das ernst nehmen. Das nächste mal könne der Orkan auch mein unbekümmertes Leben mächtig durchschütteln. Ich hole meine Jacke aus dem Warteraum und spüre die Blicke. Das Händchen haltende Paar ist gegangen. Ein kurzer Augenblick der Sorge, der Angst, hat uns verbunden. Jeder trägt sein Schicksal allein. Wenn ich an den Büroschreibtisch zurückkehre, geht das Leben weiter – wie zuvor. Und das ist ausnahmsweise auch gut so.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert