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Ein etwas anderer Roadtrip zu den Völkern im Süden Äthiopiens

Äthiopien

Auf die Schnelle sollte es noch ein Ausflug zu den Völkern des Omo-Tals und Mago Nationalparks sein. Günstig und schnell – so sind wir manchmal. Drei Wochen äthiopischer Norden liegen bereits hinter uns. In sieben Tagen sitzen wir schon wieder im Flieger nach Deutschland. Da darf es gern noch einmal etwas urig sein – Naturvölker Äthiopiens mit Lippentellern, Bemalungen, viel Perlenschmuck und Tonerde auf dem Kopf. Den Preis und die Zeit handelten wir noch bei einem äthiopischen Abendessen mit dem Chef eines Touranbieters Cheru runter. Den Jeep ließen wir uns am Vorabend auch noch einmal zeigen, aber dass er erst vorgefahren wurde, als die Nacht hereinbrach, machte uns nicht stutzig. Wir waren zufrieden mit unserer Entscheidung und in heller Vorfreude.

Unterwegs vor den Toren von Addis Abeba

Unterwegs vor den Toren von Addis Abeba

Am nächsten Morgen fuhr ein etwas anderer Jeep vor, als der uns am Vortag präsentierte. Macht nichts, wir wollen nur los. Tibetu, unser Guide, und Solomon, der Fahrer, sind unsere Begleiter. Als wir Addis nach Süden raus verlassen, passieren wir Industrieanlagen und den morgendlichen Berufsverkehr. Hinter einer Seenlandschaft erreichen wir die Geburtsstadt der Rastas, Shashemene, die einem einzigen Reggae-Festival gleicht. Hinter der bunten Stadt verschlechtert sich der Straßenzustand zunehmend und mit ihm auch bald unsere Laune. Eine üppige Landschaft Schwarzafrikas löst die bisherige Kargheit der äthiopischen Hochebene ab. Hier ist mein Herz zu Hause – Uganda, Ruanda, Tansania… Satte Grüntöne, False Bananas und mit bunten Stofftüchern bekleidete Frauen.

In Arba Minch besuchen wir die kleine Volksgruppe der Dorzes hoch oben auf einem Hügel: Hier leben Tier und Mensch in derselben elefantenförmigen Hütte. Geschäftstüchtige Kids bieten Tänze mit Hüftschwung oder Breakdance dar. Wir reihen uns hinter Japanern und einer deutsche Gruppe ein. Nach dem Gang über das Gelände suchen wir den bunten Dorze-Samstagsmarkt in Chencha auf. Tiere und Gewürze werden angeboten. In Arba Minch decken wir uns auf Anraten von Tibetu noch mit Dollars ein, denn Mursis sind anspruchsvoll in Geldfragen, wie wir erfahren. Auch wir sind anspruchsvoll, vor allem, was die Zeit betrifft.

Dorze Markt bei Arba Minch

Dorze Markt bei Arba Minch

Auf der Teerstraße in Richtung Konso kommen wir plötzlich zum Halten. Es dampft aus dem Motorraum, den Kühler dürstet nach Wasser. Unser Getränkevorrat wird angebrochen. Weiter geht’s, nur um den Ortsausgang zu erreichen. Wieder Kühlen, dann wieder weiter. Mittagspause in Konso – wir essen während Tibetu und Solomon das Auto zu reparieren versuchen. Nach drei Stunden setzen wir die Fahrt fort. Zeit ist auf unserer Tour kostbar, aber gerade wird sie regelrecht aufgefressen. Von nun an reisen wir im Stop and Go  – wir hangeln uns in immer kürzeren Abständen weiter. Immerhin wird uns ab Weyto Ablenkung geboten, hier betreten wir Hamer-Gebiet. Männer im Lendenschurz, die Kalaschnikow unterm Arm, Frauen mit Mireille-Mathieu-Zöpfchen unter Tonerde. Alles hübsch anzusehen, aber doch sehr fremd, und manchmal können wir kaum glauben, dass dies hier alles real ist. Auch die Wirklichkeit in Jinka sieht so aus. Hunderte von Hamers sind auf dem Rückweg vom Samstagsmarkt. Ein buntes Treiben auf der Straße vor den „Stadttoren“ begrüßt uns, der Farbkontrast zur üblichen Tristesse afrikanischer Ortschaften ist enorm.

Kids on the road

Kids on the road

Am nächsten Tag begeben wir uns durch eine trockene, savannenartige Hügellandschaft. Immer wieder verfolgen Kinder unser Auto mit den Worten „Highland, Highland“. Wo andere Kinder dieser Welt „Give me Dollars“ rufen, bitten uns diese Kinder lediglich um unsere leeren Wasserflaschen, die sie zum Transport des eigenen gepumpten Wassers benötigen. Und darum prügeln sie sich fast. Hinter der Hügellandschaft erreichen wir eine Ebene ohne Anbindung an die Zivilisation, nur dieser eine staubige Weg führt in unsere Welt zurück. Einzelne Mursis bringen geschäftstüchtig handgefertigte Lippenteller an Mann und Frau. Ein Vorgeschmack auf das, was uns noch erwartet.

Mursi Männer

Mursi Männer

Wir fahren eine gefühlte Ewigkeit, bis plötzlich rechter Hand im Gebüsch ein paar niedrige Lehmhütten auftauchen, die man beinahe nur kriechend bewohnen kann. Die Menschen hier sind nicht klein, wie passen die also in diese Hütten? Vielleicht liegt es daran, dass ihr Leben draußen stattfindet und sie drinnen sowieso nur liegen. Vor den Hütten tummeln sich zahlreiche Mursis auf dem kargen Platz, die neugierig und offen sofort auf unseren Jeep zurennen. Von nun an gilt die Währung: ein Foto, eine Dollarnote. Der Fotoapparat ist noch nicht ausgepackt, da postieren sie sich schon fotogen auf dem Platz. Posieren wie professionelle Models – nur etwas aggressiver. Nicht der Fotograf bestimmt das Motiv, sondern die Mursis drängen sich ins Bild und akzeptieren auch kein „no“. Geschickt schleichen sie sich immer wieder vor die Kamera und kassieren gleich darauf ab. Alles dreht sich um Posen und Geld. Nach nur 10 Minuten ist das zuvor vereinbarte Budget aufgebraucht. Aber es gibt kein Stopp. Man ist Getriebener, drückt weiter den Auslöser. Unsere Modelle kratzen und zerren, dann kippt die Stimmung und wir machen Schluss. Nach dem „Fotoshooting“ packen die Mursis ihre Verkaufsutensilien aus – Armreifen, Lippenplatten und Figuren. Im Gedränge achten sie keine Intimgrenze. So wird mir plötzlich ein Lippenteller plump in den BH gesteckt und ein Armreif über mein Handgelenk geschoben. Ich lasse es geschehen, bin verwirrt und handlungsunfähig. Für einen Moment bleibt die Welt stehen.

Ich von Mursis umringt

Ich von Mursis umringt

Da stehen wir nun völlig irritiert in einem lebenden Museum, in einer Filmkulisse, wie sie nicht besser hätte nachgebaut werden können. Zwischen hochgewachsenen, bunt geschmückten und mit Lippentellern verzierten Menschen. Job oder Alltag? Was ist gespielt, was Wirklichkeit? Die Realität schmilzt unter der äthiopischen Mittagssonne zu einem Film zusammen. Ich fühle mich in einer surrealen Welt. Ich bin nicht mehr fähig, den Auslöser des Fotoapparats zu drücken und ergebe mich stattdessen völlig der Aufführung. Da laufen Frauen und Männer fast nackt, bemalt und behangen herum – wie man sie bisher nur aus Fotobüchern oder Fernsehreportagen kannte. Mursi-Kinder grabschen mir wie selbstverständlich an die Brust und machen dabei Schmatzgeräusche, als wollten sie nuckeln. Nach anderthalb Stunden ist die Show vorbei. Ich stelle mir vor, wie es hinter dem Dorf der niedrigen Hütten eine weitere Siedlung gibt, in die sie nun zurückkehren, all ihre Utensilien ablegen, sich Jeans und T-Shirt überstreifen, in ihre eigenen Jeeps steigen und in die Stadt fahren, um das frische Geld auf den Kopf zu hauen.

Stop and go – Das Abenteuer beginnt

Stop and go – Das Abenteuer beginnt

Unser Rückweg führt erneut durch dürres, karges, abgebranntes Land. Teilweise steigen noch Rauchfahnen in die Luft. Wir sind auf einem Umweg zum Headquarter, wo wir noch einmal löhnen sollen. Dort treffen wir zufällig auf alte Bekannte aus Berlin, die im Mursi-Land festsitzen, weil die Weiterreise nach Kenia noch zu gefährlich ist. Sie warten auf eine Beruhigung der politischen Lage im Nachbarland. Es sind nicht die einzigen Kenia-Touristen, die hier ihre Runden drehen. Auch wir haben Probleme. Noch immer ist der Kühler defekt, unser Auto ist einfach Schrott. Ständiges Anhalten, Abkühlen und Wasser-Nachfüllen begleitet uns auf dieser Tour. Inzwischen werden die Abstände immer kürzer und die Haltedauer länger.

Am Abend treffen wir Peter aus der Tschechei. Er war bis nach Jinka per Bus gekommen, eine Hochleistung in Äthiopien, die Respekt abverlangt. Denn hier ist Jeep-Tourismus angesagt. Leider ging es für ihn in Jinka nicht weiter. Hamers fahren keinen Bus. Auch er will zu den Mursis, aber soviel er auch herumfragt: Kein Tourist ist bereit, ihn am nächsten Tag mitzunehmen. Ich bin entsetzt. Man denkt, Outdoor-Liebhaber sind soziale Wesen. Platz hätten sie doch genug, aber der Komfort ist ihnen wichtiger. Peter kapituliert. Er bekommt die Mursis nicht zu Gesicht. Stattdessen ist er nun unser fünfter Passagier neben mir, Lars, Tibetu und Solomon im Wagen.

Per Anhalter nach Turm, Hamerfrauen on board

Per Anhalter nach Turm, Hamerfrauen on board

Am nächsten Tag fahren wir nach Turmi, Hamer-Land. Die Strecke ist nicht weit, aber noch miserabler. Manchmal weichen wir in ein trockenes Flussbett aus. In der Regenzeit wären solche Wege unpassierbar. Loch reiht sich an Loch. Und wie in einem Freiluftmuseum laufen die Völker Äthiopiens – Banna, Ari, Hamer – an den Straßenrändern entlang. Hier fühle ich mich schon wesentlich wohler, wenngleich wir uns noch immer im „Museumsland“ befinden. Uns begegnen nun nicht mehr Männer und Frauen mit Lippenplatten, sondern in kurzen Neonklamotten, Lederröckchen, Perlenschmuck und mit Metallarmreifen an. Tonerdenzöpfchen sind gleichfalls im Angebot. Noch vor den Toren Turmis, wieder bei einem Kühler-Stopp, kommt eine gesprächige Gruppe Hamer-Frauen zu uns und platziert sich wie selbstverständlich hinten im Jeep auf unseren Rucksäcken. „Give me a ride“ auf Hamer-Sprache. Auf dem berühmten Markt in Turmi kann man Knochen- und Ziegenzahnketten erwerben. Sie sind weniger interessant, aber dafür dürfen wir fotografieren, ohne mit Birr oder Dollar zu bezahlen. Die Hamers kommen um einiges relaxter als die Mursis daher.

Festgefahren

Am Nachmittag geht es dann in ein 15 Kilometer entferntes Hamerdorf, in dem heute eine Bulljumping-Zermonie stattfinden soll. Ein lokaler Guide, den wir angeblich dringend brauchen, ist mit an Bord. Er soll uns den Weg zum Dorf zeigen. Ein Witz – unser Wagen rumpelt hinter 20 anderen her und wir sind die letzten. Wir müssten also nur folgen. Aber an einer Gabelung meint unser Guide, wir müssten hier nach links abbiegen. Peter, Lars und ich protestieren, weil wirklich kein anderer Jeep in diese Richtung fährt. Dennoch machen die Äthiopier ihr Ding. Es passiert, was passieren musste, wir fahren uns im Sand fest. Touristennepp – zahlreiche Male in Reiseberichten gelesen, fallen wir dennoch drauf rein. Unser Fahrer Solomon, völlig überfordert mit der Situation, tritt aufs Gas und gräbt sich damit immer tiefer in den Sand. Wir legen Stöcke unter das Rad und schieben mit an unter den neugierigen Blicken der Hamer, die alle herbeigeeilt kommen. Keiner hilft. By the way bemerken wir, dass unser Four Wheel ein Two Wheel ist. Nach einer Stunde erfolglosen Schiebens einigen wir uns mit den Hamers auf den Preis von 50 Birr, uns im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Dreck zu ziehen. Schnell sind wir wieder auf der Strecke. Wir beeilen uns, denn das berühmte traditionelle Ritual, das Bull Jumping, wollten wir nicht verpassen.

Bulljumping Zermonie bei den Hamers

Bulljumping Zermonie bei den Hamers

Als wir den Ort erreichen, sehen wir vor lauter Jeeps fast die Bullen nicht. Alle Reisenden scheinen sich heute an dieser einen Stelle versammelt zu haben, um sich anzuschauen, wie sich die Hamer-Frauen verprügeln lassen. Nicht zu meinem Glück. Das äthiopische Highlight der Felsenkirchen von Lalibella habe ich touristenfreier gesehen als diesen Ort, aber die stolzen Hamerfrauen wollen sich auch nicht nur meinetwegen verprügeln lassen. Vielmehr soll sich das Spektakel auch aus ökonomischer Sicht lohnen. Viele Zuschauer bedeuten mehr Geld. Doch zuerst bewegen sich die weiblichen Hamers auf einem mit Büschen begrenzten Platz, wo sie tanzen, singen und in Tuten blasen. Nach einer Weile verlassen sie das Areal, um ihre nahezu bloßen Körper den Männern anzubieten. Ein Rennen beginnt und die Hamerfrauen werden mit Ruten blutig geschlagen. Die Frauen kreischen laut und scheinen sogar etwas stolz auf ihre Striemen zu sein. Bis in die Abendstunden dauert das Spektakel. Dafür, dass wir trotz Zwischenfalls bereits am frühen Nachmittag hier waren, passiert nicht allzu viel Abwechslungsreiches. Das Außergewöhnliche liegt in der absurden Situation, die wir hier erleben. Barbusige Äthiopierinnen mit einem Rocklappen aus Tierhaut und einer Vielzahl an Muschelketten, Perlenketten und Metallschmuck bekleidet, laufen wild herum und tragen ihre blutigen Wunden zur Schau. Auch die Männer sind bunt verziert. Nach einer Weile kehren Frauen und Männer in den mit Büschen umsäumten Bereich zurück. Auch die Bullen werden jetzt hierher geführt.

Auf einer Matte in meiner unmittelbaren Nähe befindet sich ein gelangweilter Jüngling, der der Szenerie scheinbar teilnahmslos beiwohnt. Ganz schlicht und unauffällig sitzt er da und kein Tourist nimmt ihn wahr, bis er sich erhebt und losschreitet. Zum Sonnenuntergang geht es auf einem nahegelegenen Pfad einen Hügel hoch. Die Touristen rangeln um den besten Spot zum Fotografieren. Zehn Bullen werden nicht ganz problemlos nebeneinander aufgereiht, während die Hamer-Frauen singen und tuten. Mühselig ziehen und schubsen die Männer die Bullen an die gewünschte Position. Der entkleidete Jüngling nimmt Anlauf, springt hoch und rennt über die Rücken der Bullen. Dreimal wiederholt er das Spiel, dann ist er in die Erwachsenenwelt aufgenommen. Nun kann er sich eine Frau suchen. Die Sonne geht unter und wir Touristen strömen zufrieden zurück zu unseren Jeeps. Auf dem Weg hinab sehe ich abseits vom Pfad drei ältere Männer in der mit Hecken umzäunten „Dorfarena“ stehen, wie sie Bündel an Geld zählen. Die rituelle Initialisierung hat sich gelohnt. Geschäftssinn haben sie. Aber wer kann es den Bannas und Hamers verdenken, aus ihrer Tradition Profit zu schlagen, der vielleicht einzigen Möglichkeit, am ökonomischen Prozess des Landes teilzuhaben. Ihr Kapital sind sie selbst. Wo sonst geht man hin und schaut Menschen an?

Bulljumping Zermonie bei den Hamer

Bulljumping Zermonie bei den Hamer

Am nächsten Tag machen wir uns früh auf den Weg. Die erste Etappe führt uns über Erbore nach Weyto, der Ort, den die Hauptstraße von Jinka nach Konso kreuzt. Eine Stunde vor Weyto bleiben wir jedoch einfach in der platten Landschaft liegen. Wir hatten die Rechnung nicht mit unserem Jeep gemacht. Der letzte Rest meiner Wasserflasche fließt in den Kühler – mit Loch! Eine klare Fehlinvestition. Ich würde den letzten Schluck Wasser in mehr Energie umwandeln als unser Jeep momentan in der Lage ist. Tibetu und Solomon versuchen das Loch mit Seife zu stopfen. Es entstehen wunderschöne Blubberblasen. Nieder gehen wir mit Stil! In einem Meer von Seifenblasen ruckeln wir erst 50 Meter, dann 20 Meter, dann 10 Meter voran. Schließlich stellen wir fest, dass Solomon zuvor die Batterie falsch eingebaut hat und auch diese nun zu dampfen beginnt. Alles dampft und bald dampfe auch ich, nein, ich koche. Die Jungs werkeln ratlos am Jeep herum, ohne ersichtlichen Fortschritt. Neugierige Hamer-Kinder umringen uns. Ihre Mütter bringen uns Wasser für den Kühler. In der gesamten Zeit passiert uns kein Auto. Wir liegen nicht auf der Hauptroute. Mittags würden die meisten Wagen vorbeikommen, sagt Tibetu, dann könnten wir einen anhalten und um Mitnahme bitten. Tibetus Krisenmanagement besteht darin, die Ruhe zu bewahren und uns zu vertrösten. Wir würden vorbeifahrende Autos anhalten und sie um Mitnahme bitten. Nur welche vorbeifahrenden Autos meint er? Sieht er bereits die Fata Morganas, die ich nur erahnen kann? Er und Solomon machen sich weiter am Kühler zu schaffen. Sie bräuchten nun Teeblätter zum Stopfen des Lochs, teilen sie Lars mit. Ich kommunizierte schon lange nicht mehr mit den beiden Jungs, sitze stattdessen apathisch im Jeep. Ich bin kaputt, hungrig, müde – will weg.

Dann entschließe ich mich, die Ausweglosigkeit zu beenden und mein Schicksal selbst in meine Hände zu nehmen. Frustriert stiefele ich los. 20 Kilometer sollen es bis zur Wegkreuzung sein. Eigentlich ein Klacks. Nur in der einsetzenden Mittagssonne ohne Wasser nicht mehr ganz so ein Kinderspiel. Je weiter wir laufen, desto weniger Hamers begegnen uns. Auch sie bleiben lieber im Schatten der Sträucher. Mehr Schutz gegen die gnadenlose Sonne hat diese karge Landschaft nicht zu bieten. Und dann passiert es, die Mittagszeit bringt die angekündigten Jeeps hervor, aber sie fahren vorbei. Wir freuen uns, doch die Freude bleibt regelrecht in unseren Hälsen stecken. Greenland Tours gibt nur Lichthupe, um uns zu signalisieren, dass wir aus dem Weg gehen sollen. Ein anderes Tour-Unternehmen mit Deutschen fährt ohne sichtliche Reaktion vorüber. Dann hält plötzlich ein Jeep. Ein Tourist schaut heraus, um uns mitzuteilen „I am sorry, but we are full.“ Wann ist full wirklich full bei 20 Kilometern in der sengenden Hitze? Ich beginne die Touristen inzwischen mehr als unsere zwei Jungs zu hassen. Diese beschissenen Reisegruppen, die in dieser Gegend unterwegs sind. Jeder einzelne fühlt sich in überheblicher Sicherheit. Als wollten sie uns sagen, tja, hättet ihr mal einen besseren Anbieter genommen und hättet nicht so viel gespart. Wir bewegen uns, als wären wir auf dem Rennsteig unterwegs. Wilde Tiere schließen wir aus unserer Gedankenwelt hier völlig aus. Wir laufen wie verrückt unseren Halbmarathon herunter.

Turmi

Turmi

Und dann kommen plötzlich zwei Deutsche mit eigenem umgebauten Wohnwagen vorbei. Sie nehmen uns hinten mit – nach langem Überlegen. Später sind sie sich nicht zu schade, uns zu erzählen, dass sie uns nur mitgenommen hätten, weil wir uns direkt vor ihr Auto gestellt haben. Sonst hätten sie nicht gehalten. Inzwischen kennen wir die gesamte Bandbreite an unsozialen Wesen. „In der Sahara geht es ums Überleben. Da nimmt man Leute auf der Straße immer mit. Aber hier gibt es überall Wasser. Es geht nicht ums Überleben. Man kann ja nicht jeden am Straßenrand mitnehmen.“ O-Ton des Fahrers eines Wagens mit der Aufschrift „Freundschaft mit den Völkern“. Worthülsen als Tarnung auf dem Blech. Noch Fragen? Wie wäre es mal mit schlichter Solidarität, mit Höflichkeit, mit Tugenden? Überleben? Sorry, geht es hier ums Überleben? Nein, das wahrlich nicht. Kinderstube gleich null. Ich bin schockiert und muss doch noch bei ihnen ausharren. Dankbarkeit spüre ich nicht. Wir kauern im hinteren Teil des Wohnwagens auf dem Boden. Sicher ist sicher. Sie haben es ja nur gut mit uns gemeint. Wie froh bin ich, als wir Weyto erreichen. Nun sind wir wieder auf Kurs, denke ich. Erst einmal auftanken, den Körper und Geist beruhigen – im einzigen Lokal mit herrlichem Garten, dann würde sich der Rest ergeben. So denke ich eine Stunde später schon nicht mehr.

Wir unterhalten uns beim Essen mit den Fahrern der Wagen, die uns zuvor passiert haben. Alle meinen einhellig, sie hätten uns mitgenommen, wenn es nach ihnen gegangen wäre. In der Tourismusbranche geht es aber nicht nach ihnen. Money rules the world oder auch der Kunde ist König. Die Guides und Fahrer sind größtenteils Freelancer. Nur eine einzige Beschwerde bei ihren Tour Agencies, und sie stünden vor dem beruflichen Aus. Und zu enges Sitzen, das könnte schon zu einer Beschwerde führen. Ich ahne, das nächste Wegstück würde nicht weniger diffizil ausfallen. Es ist Weihnachten, Leddet, und so fahren in Äthiopien keine Busse. Wie sollen wir verdammt nochmal wegkommen? Anderthalb Tage nur noch – in Addis wartet unser Flug. Wir haben keine Zeit zu verschenken. Im Restaurant sitzen all die Gruppen, die uns zuvor am Wegesrand ignorant stehen lassen hatten.

Die Straße nach Weyto

Die Straße nach Weyto

Nach einer weiteren Stunde erreicht uns unser Jeep – abgeschleppt von zwei netten französischen Gruppen von Abyssinia und Awash Tours. Der Wagen macht keinen Mucks. Solomon baut nun den Kühler aus und entdeckt, dass das Loch in Wahrheit ein großer Riss ist. Mit diesem Jeep würde es heute nicht mehr weitergehen. Kein Bus, kaum Autos unterwegs, keine offene Werkstatt und auch kein Telefon. Tibetu sind die Hände gebunden und mir ist es zum Heulen. Diesmal handelt es sich nicht um 20 Kilometer oder 10, nein, vor uns liegt eine vierstündige Fahrt nach Arba Minch. Wer will denn da unbequem sitzen? Inzwischen verlassen immer mehr Gruppen das Gartenlokal und mit ihnen jedes Mal eine weitere Mitfahrgelegenheit. Schließlich kommt nur noch die französische Gruppe in Frage, die bereits unseren Jeep abgeschleppt hat. Sie wollen es sich bis nach dem Essen überlegen. So sitzen wir auf heißen Kohlen. Versuchen besonders sympathisch zu wirken. Und irgendwie haben wir in all unserem Unglück noch Glück. Der Fahrer holt uns nach dem Essen zu sich und offeriert uns zwei Plätze neben sich im Wagen – die Gruppe besteht aus drei Jeeps. Schnell fahren wir weiter.

Hamer Frau

Hamer Frau

Wir lassen unseren Fahrer, den Guide und das Auto in Weyto zurück. Wir lassen einen Moment lang den gesamten Ballast zurück, als sei Arba Minch schon Addis. Die drei Franzosen in unserem Jeep sind nette Gefährten. Wir genießen endlich wieder unsere Fahrt. Zwischen Konso und Arba Minch dann noch ein kurzer Zwischenfall. Das erste Auto unseres Dreierkonvois kollidiert mit einem Perlhuhn. Unser Fahrer stoppt und sucht im Gebüsch. Schließlich findet er das zappelnde Perlhuhn und dreht ihm den Hals um. Einfach so, aber es ist dann wenigstens erlöst. Drei Federn nimmt er mit ins Auto – als kleine Trophäe. Den Vogel schenkt er einem vorbeikommenden Radler, der sich für diese Abendmahlzeit herzlich bedankt, das Perlhuhn aufs Rad packt und mit ihm verschwindet. Meine Nerven liegen blank. Das Vogelrecycling mag ökonomisch sein, aber für mich als Vegetarierin ist dies das Fünkchen, was noch gefehlt hat.

Endlich erreichen wir Arba Minch, eine kleine Stadt, die eigentlich aus zwei Teilen besteht: Unterstadt und Oberstadt sind circa zwei Kilometer voneinander getrennt. Die Franzosen schlafen in Shecha auf dem Hügel. Wir hingegen fühlen uns in der Nähe des Busbahnhofs in der Unterstadt wohler, sollte es morgen keine andere Möglichkeit für ein Weiterkommen geben. Also traben wir langsam den Hügel hinab. Die Minibusse sind alle voll und nicht an zwei Touristen mit großen Rucksäcken interessiert. Braucht man einmal einen Minibus, will einen keiner mitnehmen. Sehr afrikauntypisch, wo sonst Busse nie voll genug sein können. Im Tourist Hotel in der Unterstadt Sikela versucht man uns ein überteuertes Zimmer anzudrehen. Noch nicht mal das Wasser funktioniert, so dass ich genervt das Hotel verlasse. Ich bin nicht bereit, mich ein weiteres Mal übers Ohr hauen zu lassen. Auf dem Hügel in Shecha hat es mir schon besser gefallen. Also geht es wieder hinauf. Freundlicherweise hatte unser Guide Tibetu aus der Ferne einen Kumpel in Arba Minch kontaktiert, der sich unserer annehmen sollte. Der steht im Tourist Hotel plötzlich vor uns. Mit ihm machen wir uns wieder auf nach Shecha ins Bekele Mola. Kaum sind wir auf dem Hügel angekommen, gehen alle Lichter aus. No electricy till tomorrow! Das Bekele Mola Hotel mit dem nice view sehen wir nur schemenhaft. Kein Strom, kein Telefon, keine Aussicht.

Erst einmal etwas runterkommen, entspannen in einer verspannten Lage. Dieser Freund von Tibetu kennt jemanden, der morgen nach Addis fahren muss. Der kann uns also mitnehmen für 2500 Birr. Wir klären das später über Handy mit Cheru, der den Preis drückt. Wir sollen uns aber den Jeep genau ansehen, gibt er uns noch mit auf den Weg. Wir hätten uns mal lieber seinen Jeep vorher genauer ansehen sollen, dann wären wir jetzt nicht im Schlamassel. Mit Ansehen ist ohnehin nichts. Es ist dunkel, der Fahrer lebt im Oberdorf, der Jeep steht hingegen im Unterdorf und hin- und herzukommen, ist inzwischen nicht mehr möglich. Wir haben noch keine Gewissheit, aber gedanklich sind wir Addis ein ganzes Stück näher gerückt, wenngleich es noch immer 500 km entfernt ist. Um 5.30 Uhr will uns der Freund abholen. Wir vertrauen ihm nicht ganz. Wir tun kein Auge zu.

Punkt 5.30 Uhr fährt ein Jeep vor und es klopft an unsere Tür. Wir können es kaum glauben. Um 6 Uhr sitzen wir im Jeep – ready to go. In der Nacht hatte Lars noch einmal mit Tibetu Kontakt, er war auf dem Weg von Weyto nach Arba Minch auf einer Issuzuu-Ladefläche. Er würde nachts noch ankommen. Ein wenig packte uns das Gewissen schon und so fordern wir seinen Freund auf, ihn ausfindig zu machen, damit wir ihn mit nach Addis nehmen können. Mir scheint dieser Jeep in einem deutlich besseren Zustand zu sein als unser bisheriger. Kein Wunder, der Fahrer arbeitet für die Regierung, wie wir erfahren, und der Wagen hätte sowieso nach Addis gemusst. Die Fahrt ist also schon bezahlt und unsere 2000 Birr fließen eins zu eins in die Taschen der Jungs oder vielmehr direkt ohne Umweg über die Tasche in den nächsten Khatdkauf in der Rastafarian Stadt Shashemene. Tibetus Kumpel sitzt die restliche Fahrt mit blutunterlaufenen Augen Khat kauend auf der Rückbank. Solange er zufrieden dahinten sitzt, bin ich beruhigt. Trotzdem ist das Bild etwas angsterregend, da er stämmiger Statur ist und in Schweißausbrüchen zerfließt. Schließlich zieht er sich sein Hemd aus, und das macht den Anblick nicht delikater.

Pünktlich zum Feierabend erreichen wir Addis und stehen Stau. Wir treffen uns noch mit Cheru in der Bole Road, ein Umweg, der zur Klärung einiger Dinge aber unumgänglich ist. Kurz erstarrt unser angestauter Frust und Zorn als vor uns ein Mensch angefahren wird. Ein Menschenauflauf verhindert den Blick auf mehr. Das jämmerliche Schreien verfolgt uns. Ein Krankenwagen fährt vor, nur um kurz darauf wieder davon zu fahren. Er wurde nicht gebraucht. Das Leid liegt auf der Straße. Auch unsere Tour hat seine Opfer gekostet, und damit meine ich nicht uns. Tibetu war in Weyto bei einem weiteren Reparaturversuch der Kühler auf die Hand gefallen. Er hatte eine offene Wunde. Solomon blieb mit seinem Jeep in Weyto. Als er versuchte, seinen Jeep allein zu reparieren, fiel ihm die Motorhaube auf dem Kopf. Seine Kopfwunde hörte wohl nicht mehr auf zu bluten, so dass er ins Krankenhaus nach Arba Minch musste, während der Jeep verwaist zurückblieb. Kosten, die seine Familie sicherlich schwer belasteten. Während wir einfach wieder nur eine Geschichte mehr gesammelt hatten, die im Moment des Erlebens enorm frustrierte, aber uns rückblickend immer noch schmunzeln lässt.

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Autorin: Madlen Brückner
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6 Kommentare

  1. Krasse Geschichte, dass euch niemand mitnehmen wollte. Das Argument, dass ihr nicht in Lebensgefahr gewesen seid, zieht irgendwie nicht wirklich. Im Vorbeifahren kann man das nämlich nicht gut beurteilen.

    • Da bin ich ganz Deiner Meinung, Oli. Wir waren auch sehr erstaunt von „dieser Art Reisenden“. So etwas war mir bisher total fremd. Aber man lernt immer dazu, in der Sahara helfe ich, im Süden Äthiopiens eben nicht. Ist ja auch nicht so gefährlich 😉 LG, Madlen

  2. Ein fesselnder Reisebericht!

    Sch… Kühler, der hat mir schon mehrmals einen Trip in Afrika versaut.
    Als einmal die rote Warnlampe am Armaturenbrett anging, schleppten wir uns mit letzter Kraft in eine Werkstatt. Dort wurde kurzer Prozess gemacht: Raus mit dem Relais, das die rote Lampe auslöste, und schon war der Fehler repariert.

    Kühlerreparatur auf süd-afrikanisch. Natürlich lief das Wasser weiterhin raus und wir mussten stetig nachfüllen. Bis man irgendwann dann 3 Löcher im Kühlkreislauf entdeckte. ENDLICH!

    Grüße aus dem Donautal
    Wolfgang

    PS: Deinen tollen Bericht habe ich gleich bei http://1001-ReiseBerichte.de geteilt.

    • Danke, lieber Wolfgang. Ja, solche Riadtrips durch Afrika haben immer einen gewissen Spannungsmoment. Heute lachen wir darüber, aber während der Tour wurde es irgendwann nervig… LG, Madlen

  3. Vielen Dank für den etwas anderen Bericht! Liest man ja eher selten.

    Herrlich: „Von nun an gilt die Währung: ein Foto, eine Dollarnote.“ Kann ich mir bildlich gut vorstellen! Der Tourismus ist anscheinend ein integraler Bestandteil geworden. Da sie die Situation sicherlich selbst am wenigsten einschätzen können, haben sie ebenfalls ungewöhnliche Erfahrungen gemacht und „benehmen sich“ so. Für uns sehr ungewohnt.

    In Äthopien kenne ich mich nicht gut aus, bin eher aus Recherchezwecken auf deinem Artikel gelandet.

    Meinst du mit Ari https://de.wikipedia.org/wiki/Aari_(Volk) – hier mit Doppel A geschrieben.

    Lieben Gruß

  4. Da bekommt mein Gänsehaut. Einige Bilder der Landbewohner sind genial, ausdrucksstark und packend! Großes Kompliment dafür. Deinen Bericht finde ich auch überaus gelungen. Es zeigt einfach wie es ist und das auf eine tolle Art und Weise.

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