„Nur noch wenige Meter, dann hast Du es geschafft. Bei schönem Wetter kann es einem nur gut gehen!“ ruft die Wirtin der Segnespass Mountain Lodge der abgekämpften Wanderin zu, die noch den letzten steilen Abschnitt auf Geröll bewältigen muss, bevor sie sich auf der Terrasse mit dem Blick über die Tschinglen Alp ausruhen kann. Die Wirtin dreht sich dann zu uns um und meint: „Du kannst den Weg noch so oft hochgehen, er tut immer wieder weh.“ Zufrieden nippe ich an meinem Kaffee, den ich mir in allen Lebenslagen gönne.
Nur wenige Minuten zuvor habe ich mich an der Tschinglen Alp und der Brünschegg abgearbeitet. Immer die Tschingelhörner und das Martinsloch mit der feinen, aber deutlichen Linie der Glarner Hauptüberschiebung vor mir, ging ich den Aufstieg zu ehrgeizig an. Schnell erreichte ich den Punkt, an dem sich das Hirn ausschaltet, um alle Kräfte in die Beine zu entsenden. So gern ich das Wandern zum Nachdenken nutze, so merkte ich, dass dies erst nach der Passüberschreitung gelingen konnte, als der Automatismus auf den Beinen wich und in meinem Kopf wieder genug Raum für Gedanken blieb.
Anfahrt nach Elm
Um 7.16 Uhr hatte ich noch verschlafen die Bahn nach Zürich genommen, wo ich an der Station Ziegelbrücke in die Bahn nach Schwanden umgestiegen und von dort mit dem Bus ins Wakkerpreis-Dorf Elm gefahren bin. Es ist, als wären alle Schweizer für die Berge geboren. Ob allein, als Paar oder als Gruppe. Kaum einer, der an diesem frühen Samstagmorgen nicht in Outdoor- oder Sportklamotten in den öffentlichen Verkehrsmitteln sitzt. Nachdem ich zwei Stunden die herrliche Bergkulisse an mir vorbeiziehen sehe, werde ich kurz darauf als einsame Wanderin selbst Teil dieser Bergwelt, als ich in Elm den Bus verlasse.
Ein vages Gefühl von dem, was mich erwartet, macht sich breit. „Pass auf Dich auf, Du gehst ins Hochgebirge!“, so verabschiedete sich am Vortag noch der ehemalige Chef der Tourismusbehörde von Chur. Jeder Helikopter, der über meinem Kopf kreist, hinterlässt Spuren. Ein Gefühl des Respekts vor den Bergen und der Gewalt, die außerhalb unseres Tuns ist, macht sich breit – gerade auch nach dem Unglück etwas südlich von hier in Bondo. Man hat mir noch die Nummer des Rettungshelikopters geschickt, just in case. Tatsächlich sind das Dinge, an die ich als Flachwanderin mit gelegentlichen begleiteten Hochgebirgsausflügen nicht primär dachte. Und nun stehe ich am Fuße der Tschingelhörner und sehe eine steile Wand vor mir. Noch ist mir nicht klar, wo mich mein Weg entlangführt. Ich gehe sehr unvorbereitet in diese Wanderung. Eine App von Graubünden habe ich mir noch heruntergeladen.Warum fühle ich mich immer wieder bei allem, was ich mache, als Greenhorn?
Ich stehe in Elm, Holzhäuser mit blühenden Vorgärten zieren den 1,5 km langen Weg zur Tschingelbahn. Ich bin etwas enttäuscht von dem wolkenverhangenen Himmel. Eine kleine Schlange hat sich bereits an der Seilbahn-Station gebildet. Die Gondel, die immer nur 4 Personen fasst, um diese 500 m der Tschingelalp hinaufzubringen, benötigt hierfür 7 Minuten über den ehemaligen Tiefseegraben. Nach der eindrucksvollen Tschingelnschlucht, die wir überqueren, spuckt uns die Gondel mitten auf einer Bergwiese aus. Jeder von uns vier ist allein unterwegs, wie ich jetzt erst bemerke. Und so wünschen wir uns viel Glück und jeder geht seines Weges.
Der Aufstieg
Das erste Stück meiner Wanderung führt mich über Bergwiesen und durch Bachläufe. Meine Trittfestigkeit wird hier schon auf Probe gestellt. Nach einer Stunde lege ich eine 15 minütige Pause ein. Das hatte ich am Cotopaxi vor drei Jahren gelernt. Die Sonne kämpft sich durch die Wolken und beginnt an meiner Haut zu ziehen und die Lippen auszutrocknen. Inzwischen bin ich nicht mehr allein am Hang, der nun an Steigung gewinnt und gut einsehbar ist. Alle, die mich während meiner Rast überholten, reihen sich wie eine Perlenkette auf. Ich überhole trotz schmerzendem Knöchel. Der Weg wird von Geröll bestimmt und lässt mich nach einer weiteren Stunde noch einmal kurz zum Halten kommen. Die Segnes Mountain Lodge ist zum Greifen nah, als ich mich an die Worte meines Bergführers am Cotopaxi erinnere. Es ist schon entscheidend, ob man allein oder mit Begleitern am Berg kämpft. Ich rede mir nun selbst gut zu. Die letzten Schritte fallen mir immer schwerer, auch mit der einsetzenden Hitze. Vor mir steht die unüberwindbare Felswand mit dem 18 m hohen und 15 m breiten tropfenförmigen Martinsloch und den Tschingelhörnern, links davon befindet sich der Segnaspass. Ich folge dem Sound einer Fata Morgana, höre Rufe, die wie „Hallo“ zu mir hinaufschallen, sich aber als das Blöken und Muhen von Schafen und Kühen herausstellen. Der Klang der Glocken, der diese Rufe begleitet, verrät die Herkunft.
Auf dem Segnaspass
Eine Jungengruppe bricht gerade auf und fragt nach Trinkwasser, als ich nach 2,5 Stunden die einfache Hütte aus dem Zweiten Weltkrieg erreiche, die heute als Mountain-Lodge-Hütte dient. Trinkwasser gibt es nicht, ein kleines Dixi-Klo steht etwas abseits. Am Fels hängen Rucksäcke an Seilen – der „Rucksackparkplatz“, wie die Wirtin erklärt. Doch heute hält sich der Andrang in Grenzen und so muss ich meinen Rucksack dort nicht parken. Die Mountain Lodge ist von Juni bis September von 6 bis 22 Uhr geöffnet. Ein schöner Platz zum Arbeiten, vorausgesetzt, die Sonne scheint. „Wenn es schneit oder stürmt, ist dieser Ort brutal, da lernst Du Dich selbst kennen.“, erzählt die Wirtin, die diese Arbeit nicht einmal für die ganze Saison macht.
Ich bin auf 2627 m Höhe, das ist schon viel, bedenkt man, dass der höchste Berg Deutschlands 2.962 m hoch ist. Eine halbe Stunde sitze ich hier, lasse meinen Blick über das schroffe Bergpanorama schweifen, in das sich sanfte grüne Wiesen einfügen. Der Wirtin und den anderen Gästen lausche ich eher beiläufig. Dann treibt es mich zurück auf den Weg, der mich über den Segnaspass hinab über den steilen Abstieg über die untere Segnesebene führt. Nun kommen mir immer wieder Wanderer entgegen. Zunächst ist es auf dem Schotter wieder rutschig, doch nach einer Viertel Stunde einmal auf der Hochebene angelangt, geht es fast eben weiter. Vor mir liegt eine Ebene, die mich an den Wakhan Korridor erinnert. Links und rechts steigen felsige Bergrücken auf. Die Ebene ist von einem Geröllfeld mit vielen kleinen Wasserläufen durchzogen. Das glasklare Wasser umspielt das Geröll mit einem Funkeln. Überall glitzert und schimmert es. Beeindruckt von der atemberaubenden Landschaft halte ich immer wieder inne.
Die Segnesebene nimmt zunehmend die Gestalt einer Schwemmebene und Moorlandschaft an und gewinnt an satteren Grüntönen. Die verschiedenen Flussläufe des Flem zaubern ein Kunstwerk in die Landschaft. So zeichnet der mäandrierende Flem durch Überlagerungen Schlangenlinien in die Wiesen, die ein Zopfmuster bilden. Kuhglocken mischen sich in die Soundkulisse des rauschenden Windes. Ansonsten gibt es keine von Menschenhand gemachten Geräusche. Nach 1,5 Stunden erreiche ich einen Wasserfall, der sich steil über die Felskante stürzt und mit seinem Tosen die Akustik bestimmt. Wie ein Kunstwerk bahnt er sich imposant seinen Weg durch das Gestein. Überhaupt scheint die Natur hier an einem Farb- und Formspiel gearbeitet zu haben. Ich beginne Flechten auf Steinen zu fotografieren und stelle mir ihre Musterung auf Stoffen vor.
Der untere Segnesboden wird immer belebter. Wochenendausflügler liegen, sitzen oder laufen im und durch das Gras. Mein Tagesziel, die 2102 m hoch gelegene Segneshütte, ist am Ende der Hochebene sichtbar. Um 14.30 Uhr erreiche ich die schöne Sonnenterrasse der Berghütte, auf der ich den Tag ausklingen lasse und meine Füße von der Wanderung erhole. Noch zwei Sonnenstunden sind mir geschenkt, dann sehe ich bereits, wie sich die dunklen Wolken über den umliegenden Gipfeln zusammenziehen, um sich kurz darauf über Flims zu ergießen. Ein Grummeln und Grollen begleitet den Regen. Am Abend erreicht auch uns das Gewitter, doch jetzt stört es mich weniger.
Hier oben bei der Segneshütte sieht man die Spuren der Entstehung von Gebirgen so deutlich wie kaum in einer anderen Gegend. Der Flimser Bergsturz, einer der grössten Bergstürze, gestaltete nicht nur die Rheinschlucht, sondern auch das Plateau.
Abstieg auf dem Flimser Wasserweg (Trutg dil Flem) – wo Natur Kunst ist
Über die Bergkulisse legt sich noch ein dunstiger Schleier, als ich am Morgen um 8.30 Uhr die Segneshütte verlasse. Der Flimser Wasserweg führt mich nicht direkt, aber dafür szenisch schön, in das noch verschlafene Örtchen Flims, das Ziel meiner zweitägigen Wanderung ist.
Ich steige 20 Minuten über die Ebene Punt Muletg sper l’Aua bis zur oberen Brücke ab, die über dem mehlig-blauen Flem liegt. Es ist die erste von insgesamt sieben Brücken des berühmten Bündner Brückenbauer Jürg Conzett, die mich in den folgenden Stunden immer wieder die Flussseite wechseln und in die steilen Abgründe der Schluchten schauen lassen, durch die sich der Flem seinen Weg bahnt.
Künstliche Steinplatten liegen bei der ersten Überquerung fast natürlich über dem Flem. Der Weg wechselt nun immer wieder die Flussseite. Auf die obere Brücke folgen die hölzerne Verweilbrücke und die Brücke Pilzfelsen. Bei Hochwasser gibt es hier auch alternative Wege. Der blaue Flem spielt sich hier in schönen Wirbeln durch die bizarren Felsformationen aus hellem Gestein. Unter dem Blick der flinken Murmeltiere wandere ich über die Wiesen.
Nach 1,5 Stunden erreiche ich das Restaurant und die Seilbahnstation Startgels auf einer Höhe von 1590 m. Von hier führt mich der Flimser Wasserweg nun durch bewaldete Hänge und fast immer direkt am Wasser entlang. Zwei hölzerne Brücken Taschlims und Punt da Max sind zu überqueren, bevor ich gegen 11 Uhr die hohe Wasserfallbrücke aus Valser-Gneis-Gestein erreiche, die kurz unterhalb von zwei Wasserfällen über dem Flem führt.
Mit dem sonntäglichen Läuten der Kirchenglocken um 12 Uhr erreiche ich Flims. Etwas müde bewegen sich meine Füße den Berghang herab – über meinem Kopf ziehen die Gondeln des Lifts vorbei. Mountainbike, Hund… nicht nur Menschen schweben dort.
Bevor ich in den Postbus nach Chur steige, will ich etwas zur Ruhe kommen. Und so trinke ich noch einen Kaffee in der Après-Ski-Bar Legna an der Talstation Flims. Wo sich im Winter Skifahrer stärken, sitzen nun nur vereinzelte Gäste in der Sonne. Noch einmal schaue ich nach oben zur Segneshütte, in der ich meine letzte Nacht verbrachte, und bin ein klein wenig stolz. Ich bin viel zu selten in den Bergen, obwohl ich hier oft Energie tanken und mir neue Sichtweisen aneignen konnte. Ich beschließe, der Sardona-Welterbe-Weg hat noch fünf weitere schöne Etappen, die bewandert werden wollen.
„Wenn Berge da sind, weiß ich, dass ich da hinaufgehen kann, um mir von oben eine neue Perspektive vom Leben zu holen.“
(Hubert von Goisern, Österreichischer Musiker)
Was man sonst so wissen sollte?
- Meine Route: Elm – Tschinglen-Alp –Segnespass – Segnes Sut –Segneshütte – Flims
- Schwierigkeit und Kondition werden mit 4 von 5 Punkten eingestuft.
Zeit: 8,5 h
Strecke: 19,4km
Höhenmeter Aufstieg: 1678 m
Höhenmeter Abstieg: 1563 m - Ich habe die 6. Etappe des Sardona-Welterbe-Wegs in 2 Tagen erwandert. Grundsätzlich ist dies auch an einem Tag möglich.
- Der gesamte Sardona-Welterbe-Weg ist als SchweizMobil Wanderroute Nr. 73 ausgeschildert. Es sind ca. 7 500 Höhenmeter auf 84 km zu überwinden. Kondition wird als schwer und Technik als mittel eingestuft.
- Die Tektonikarena Sardona wurde 2008 von der UNESCO in das Weltnaturerbe aufgenommen. Nirgends auf der Welt sind die Phänomene der Gebirgsbildung besser sichtbar als im Grenzgebiet der Kantone St. Gallen, Glarus und Graubünden.
- Teil meines Wanderwegs war der Trutg dil Flem (Flimser Wanderweg). Er erhielt den Hauptpreis Prix Rando 2014 vom Verband Schweizer Wanderwege für seine besonders gelungene Kombination aus Kunst, Technik und Natur.
- Fahrt von Elm mit der Tschinglenbahn
- Nützlich: Graubünden Wander-App
- Die Segneshütte ist eine der ältesten Berghütten der Region und frisch renoviert. Hier kann man im Selbstbedienungsrestaurant Bündner Spezialitäten speisen und bietet Übernachtungsmöglichkeiten im Doppelzimmer sowie in Dorms an. Auf der großen Sonnenterrasse lässt es sich gut entspannen.
- Die Segnespass Mountain Lodge stammt aus dem 2. Weltkrieg und ist eher einfacher gehalten. Auch hier lädt eine Terrasse zum Speisen ein – direkt neben den Tschingelhörnern.
Ich wurde vom Graubünden Ferien zu dieser Recherchereise eingeladen. Alle Ansichten sind meine eigenen.
Also wenn es etwas gibt, in dem Du definitiv kein Greenhorn bist, dann ist das im Texte schreiben und fotografieren – packend beschrieben und macht Lust, sofort loszuziehen
Liebe Grüsse
Ariana
Ganz lieben Dank für das schöne Feedback, liebe Ariana. Liebe Grüße, Madlen
Ich bin erst in Australien auf den Geschmack des Wanderns gekommen. Seitdem liebe ich es. Danke für deinen tollen Beitrag