Jahr: 2022

Estland-10

Estland und die Lieder gegen das Verschwinden

Plattenbauten aus der Sowjetzeit ziehen an uns vorüber, als wir Tallinn gen Osten verlassen. Peterburi ist nur 300 km, die russische Grenze 200 km entfernt. Das Weiß ummantelt die Tristesse dieser Gegend am Rande der Hauptstadt. Ein Viertel der Einwohner Tallinns leben im Plattenbau. Das matte Metall der Straßenbahnschienen, die die Menschen hier mit dem Zentrum verbinden, blinkt aus dem Schneegestöber. Tallinn ist klein. Schnell weitet sich der Blick, in den die Flocken hineinwirbeln. Das nördlichste Land des Baltikums hat der Winter Ende März noch im Griff. Wir kommen kurz auf dem Standstreifen der Autobahn zum Stehen, um alte Ringgräber anzusehen. Die ältesten erhaltenen Baudenkmäler hier. Man hätte die kreisförmigen Steinaufschüttungen fast übersehen können durch die beschlagene Scheibe. Wir könnten auch mitten auf der Autobahn anhalten – es hätte niemanden gestört. Wasserfall Jägala – gefrorene Erinnerung Es sind diese einsamen Landstriche, die mich immer wieder faszinieren. Raus aus dem Menschentrubel Berlins, rein in die Abgeschiedenheit. Wir verlassen die Route gen Osten – da wo Natur ihre kalte Schönheit entfaltet und ihr frostiges Gesicht uns entgegenstreckt. Vor uns …

Lettland Kemeri Moor

Wo die EU endet – Lettland zwischen Stränden, Mooren, Bunkern und KGB

Ein eiskalter Wind bläst durch die verwaisten Straßen Rigas. Mütze, Handschuhe und dicke Winterjacke versagen an diesem stürmischen Märztag. „Nordwind ist immer kalt“, sagt Kristine, die uns auf dieser Reise begleitet. Auffällig viele gelbblaue Fahnen wehen in den Straßen. Hinzu kommen die rot-weißen lettischen Flaggen. „Gestern war Gedenktag für die Opfer des kommunistischen Terrors“, klärt sie auf. Was das bedeutet, werde ich noch bei einem Stopp im KGB-Museum auf dem Weg vom Flughafen ins Hotel erfahren. Das Eckhaus und der KGB – über Verschleppung, Folter und Verhöre 1949 deportierte das sowjetische Besatzungsregime 43.000 Menschen aus Lettland nach Sibirien – Bauern, Intellektuelle und andere, die Moskau als Feinde des Kommunismus ansah. „Jeder hat in der Familie jemanden der verschleppt wurde.“, sagt Kristine. Im einstigen KGB-Gebäude, das unscheinbare Eckhaus, werden wir durch die Verhörräume und Gefängniszellen geführt und blicken am Ende auf eine Wand mit Einschusslöchern. Die kalten Temperaturen in den Räumen, die damals auf 30 Grad beheizt wurden, versetzt uns in die Zeiten, in denen das Komitee für Staatssicherheit (KGB) in Lettland agierte. Tscheckisten haben im Eckhaus von …

Portugal

Wo Portugal aus der Bettwäsche grünt – Minho und Dourotal

„Es grünt aus der Bettwäsche.“ Mit einem breiten Lächeln macht uns Olga, die uns die nächsten Tage auf der Reise durch den Norden Portugals begleiten wird, auf die Vorzüge des Regens aufmerksam. Grün ist die Farbe der Region zwischen den Flüssen Minho und Douro, die von Weinbergen geprägt ist. Es treffen tiefgrüne Landschaften und Gebirge Peneda und Geres im Osten auf den rauen, ungezähmten Atlantik und weiße Sandstrände. Die als grüner Minho bekannte, niederschlagsreiche Provinz an der galicischen Grenze galt mit seiner ersten Hauptstadt Guimarães, seinem religiösen Zentrum Braga und all seinen lebendigen Traditionen im Land schon immer als Wiege Portugals. Und auch der einzige Nationalpark Portugals, Peneda-Geres, liegt hier.  Die ersten Nächte in Nordportugal verbringen wir auf dem stattlichen Anwesen des Grafen Francisco de Calheiros, der uns in seinem Herrenhaus Paco de Calheiros aus dem 17. Jahrhundert willkommen heißt. Er führt uns durch die alten Gemächer – der Duft des Antiken benebelt etwas die Sinne. Unter dem Dach sammeln sich zahlreiche Antiquitäten – ein Zeuge anderer Zeiten. Beim Löffeln der typischen Kartoffel-Kohlsuppe Caldo verde lauschen wir seinen Erzählungen über die familiären Verbindungen nach Übersee. Generell war die Gegend lange Zeit von starken Auswanderungswellen betroffen, …