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Bhutan – Eine Wanderung zum Tiger’s Nest

Bhutan

Der Abstieg ist immer einfacher als der Aufstieg. Und dem einen fällt es leichter als dem anderen. Tobgay jedenfalls überrascht mich. Mit Dribbelschritten meistert er den steilen Abhang, der uns durch das wilde Dickicht wieder zurück auf den ausgewiesenen Wanderweg führt. Leichtfüßig sieht das bei ihm aus – ich hingegen brauche meinen Wanderstock, den ich mir zu Beginn unseres gut vierstündigen Fußmarsches im Paro-Tal von einem einheimischen Händler gekauft habe, um den steilen Weg hinauf zum „Tiger’s Nest“ zu meistern. Der Muskelkater plagt mich schon jetzt, ein richtiger „Drachen“ ist das.

Mensch, ich war auch schon mal fitter, denke ich mir. In Gedanken bin ich beim Blick hinab schon bei der nächsten Knie-OP, als Tobgay mir von unten zuruft, ich solle meine Beine einfach ihr Spiel spielen lassen und mir nicht allzu viele Gedanken machen. Ich befolge den Rat unseres Guides und siehe da, das Herz in die Hand genommen – und schon habe auch ich es geschafft. „Das war eine Abkürzung“, sagt Tobay und grinst. „Das war nicht ungefährlich“, denke ich mir. Und grinse auch.

Tobgay ist ein fröhlicher und unbekümmerter Typ. Er hat schwarze, kurze Haare. Er trägt ein orange-rotes Gewand aus Seide („Bura“), das mit vertikalen Streifen versehen ist – die traditionelle Tracht von Bhutans Männern, „Go“ genannt. Die Kleider der Frauen, in Bhutan das Familienoberhaupt, erinnern an eine Mischung aus Bademantel und Rock. „Kira“ nennen sich die Gewänder der Frauen, hier sind die Streifen horizontal. Bei offiziellen Anlässen – wie zum Beispiel dem Besuch des „Tiger’s Nest“ – ist die Nationaltracht gesetzlich vorgeschrieben.

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Tobgays stämmiger Körper reicht knapp an die 1,90 Metern heran. Das unfassbar scharfe „Chili-Cheese“, Bhutans Nationalgericht, vernascht er schon zum Frühstück als wäre es Schweizer Schokolade. Tobgay war sogar schon mal in der Schweiz. Ein Ehepaar, das er angeleitet hatte, lud ihn ein und zahlte ihm den Trip. Europa sei wunderschön, sagt er uns Deutschen. Er hoffe, dass seine Tochter in Europa studieren könne. Mit seinen schwarzen Strümpfen, die seine strammen Waden verdecken, sieht Tobgay aus wie eine asiatische Mischung aus Obelix, Mönch und Footballspieler – mit der Leichtfüßigkeit eines Karate-Großmeisters. Einen Wanderstock braucht Tobgay nicht. Ich staune. Für ihn ist der Abstieg vom „Tiger’s Nest“ ins Tal von Paro Routine. Es sieht leicht bei ihm aus, weil es leicht für ihn ist.

Paro im Westen Bhutans, geheimnisvoll zwischen den beiden mächtigen Nachbarn China und Indien gelegen, ist Tobgays zweite Heimat, sie liegt gut 2500 Meter über dem Meeresspiegel. Zum besagten buddhistischen Kloster, diesem „Tiger-Nest“, dem Wahrzeichen der Stadt, sind es nochmals weitere 800 Höhenmeter. Zum Vergleich: die Zugspitze liegt auf knapp 2900 Metern. Doch anders als hierzulande herrscht im dünn besiedelten Bhutan auf 3300 Metern noch eine Vegetation als wäre man im Schwarzwald. Die Sonne brennt hier oben mächtig, meiner Haut hat sie bereits eine leichte Röte verpasst. Ein bisschen Bräune kann ich Käsebrot eigentlich gut gebrauchen, denke ich mir. Abends werde ich jedoch mehr Krebs als Latino sein. Doch der Sonnenbrand wird sich gelohnt haben. Deal with it, Marcel. Schließlich hattest du, hatten wir ein Riesenglück, dass wir überhaupt hier sein dürfen – in diesem wunderbaren buddhistische Wander-Paradies mit seiner herrlichen Landschaft, gespickt mit Bergketten und dichten, dunkelgrünen Wäldern, verziert mit gelben Reisfeldern und umrandend von den mächtigen Felsen des Himalayas. Ein Land aber, das sich jahrelang vom Tourismus abgeschottet hatte und das nach wie eine sehr restriktive Einreisepolitik verfolgt. Dass wir hier sein dürfen, ist deshalb keine Selbstverständlichkeit. Umso schöner ist es, dass wir hier in den Süden Asiens kommen durften, um die Schönheit des Königreichs Bhutans mitsamt seiner Kultur und seinen Menschen in einem Video festzuhalten.

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Einer dieser Menschen ist Tobgay. Der hauptberufliche Guide ist den Weg hinauf zum Tiger-Nest-Kloster schon Hunderte Male gelaufen. Er kennt jedes Gebetsfähnlein, das die Einheimischen entlang des Wanderweges aufhängen. In blau, weiß, rot, gelb und grün, den Farben der Elemente, sind sie nicht nur auf dem schweren und von felsigen Flächen übersäten Geläuf hinauf zum Tempel zu finden. Im ganzen Land hängen die quadratischen Stofffetzen mit buddhistischen Mantras darauf an den Bäumen und Sträuchern – an jeder „heiligen Ecke“ und meistens in den Höhenlagen, den Göttern am nächsten. Sie machen die ohnehin wunderschöne Berglandschaft dieses asiatischen Zwergs von Land zu einem bunten Farbenspiel und verleihen der prächtigen Landschaft einen unbeschreiblichen Zauber.

Die Fähnlein flattern im Wind – vielleicht heißen sie auch deshalb „Windpferde“. Zum Teil spannt sich das Fahnenmeer beim „Tiger’s Nest“ fast Hundert Meter weit über dem Boden – über die scharfen Klippen hinweg. Wie haben die das gemacht? – frage ich mich. Und wie zum Geier haben die Bhutaner Ende des 17. Jahrhunderts auf dem knappen Felsvorsprung überhaupt dieses Kloster gebaut? Wir Menschen sind bisweilen eine bewundernswerte Spezies. Als das „Tiger’s Nest“ – in der Landessprache „Taktshang“– 1998 abbrannte, brauchten sie jedenfalls moderne Baumaschinen und Kräne, um es wieder aufzubauen.

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Tobgay ist Mitte 30 und Familienvater. Doch Frau und Nachwuchs sieht er nicht allzu oft. Seit fast 15 Jahren ist er Reiseführer und zum Teil wochenlang mit seinen Reisegruppen unterwegs. Uns begleitet er zehn Tage lang beinahe rund um die Uhr. Nie haben wir ihn traurig erlebt. Tobgay hat das staatliche Gebot der Gastfreundschaft verinnerlicht. Er scheint glücklich zu sein; glücklich im „Land des Glücks“, in jenem buddhistischen Staat, der sich einen „Glücksminister“ leistet. Mal wandert er mit seinen touristischen Gäste im Himalaya herum, an einem anderen Tag begleitet er uns junge Deutsche hinauf zum „Tiger’s Nest“. Dann, wenn er mal wieder in der Heimat, in Bhutans Hauptstadt Thimphu, ist, besucht er abends seine Familie, ansonsten schläft er in den verschiedenen Orten bei Bekannten – nie in unserer Nähe. Das gehöre sich nicht, lässt er uns wissen. Bescheiden ist er also auch noch, unser „Tobgaylix“. Und die Arbeit wird für Tobgay nicht weniger: Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich Bhutan Tourismus geöffnet. 1990 kamen im Jahr noch rund 2000 Touristen ins „Drachenland“ – 2013 waren es satte 90 000.

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Paro, an dessen Beergen das Tiger’s Nest hoch oben prangert, ist eine Kleinstadt im Westen des Himalaya-Königreichs Bhutan. Auch international bekannt geworden ist die 15.000-Einwohner-Stadt durch ihren kleinen Flughafen. Er gilt als einer der gefährlichsten der Erde, weil der Pilot auf dem unübersichtlichen Gelände und der kurzen Landebahn keine Leitsysteme nutzen kann, sondern seinen Flieger quasi von Hand landen muss. Wer hier seinen Jet absetzt, muss Eier haben. Nur eine Handvoll Piloten dürfen hier überhaupt landen. Die Route Katmandu-Paro fliegen viele Touris nur des Fluges wegen, in den gut eineinhalb Flugstunden gleitet man auf Augenhöhe mit dem Himalaya – vorbei am Mount Everest, dem Dach der Welt.

Nur zwei Airlines fliegen Paro an. Wir kommen von Nepal aus mit der königlichen Fluglinie „Drukair“ an – „Druk“ wie der Drachen, der die orange-gelbe Nationalflagge ziert. Kein Bhutaner nennt sein Land übrigens „Bhutan“. Für die Einheimischen ist es das „Land des Donnerdrachens“, „Druk“ eben. Paro ist der einzige internationale Airport des Landes. Jeder Tourist beginnt seinen Trip folglich hier. Als uns Tobgay am Flughafen am Vortag begrüßt hatte, fiel uns sofort die reine Luft auf. Ich atme tief durch. Es ist ruhig. Die wenigen Autos schleichen förmlich, man hat es hier nicht eilig. Ampeln gibt es in Bhutan nicht, der Verkehr wird hier noch von Hand geregelt. Die Straßen sind sauber, die Flüsse sind es auch. Überall stehen Schilder mit witzigen Sprüchen, die – auch in englischer Sprache – den Vorbeifahrenden daran erinnern, auf die Geschwindigkeit und die Natur zu achten. „Darling, I want you – but not so fast.“

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Irgendwie erinnert mich Bhutan mit seinen schneebedeckten Bergen, seinen Seen und seinen Wäldern an die Schweiz: mit fernöstlichen Gebäuden und Mönchen halt. Ohne Schokolade, dafür mit Chili Cheese. Auch die Größe ist vergleichbar mit dem Staat der Eidgenossen. Doch während es die Schweiz auf rund acht Millionen Einwohner bringt, hat Bhutan nicht mal ein Zehntel davon.

Tobgay führt uns zunächst zur Paro-„Dzong“. Die mächtige Festung aus dem Jahre 1645 ist sowohl eine Pilgerstätte für Geistliche als auch ein Regierungsgebäude – in Bhutan gehen Religion und Staat Hand in Hand. Als wir den schmalen Weg hinauf zur „Dzong“ laufen, kommen Tobgay einige Mönche und andere Bewohner Paros entgegen, er begrüßt sie alle per Handschlag. Ich frage ihn, was die verschiedenen Farben der langen Stoffbänder zu bedeuten haben, die sich die Bhutaner um die Schulter wickeln. Die Farbe des „Zeremonialschals“ zeige den Beruf oder den Stand an, antwortet er. Tobgays Schultertuch ist weiß. Als er die Festung betritt, zieht er es aus. Tobgay greift an seinen Kopf und nickt mir zu. Ich schaue ihn verwirrt an. Wenn man in Bhutan religiöse Artefakte betritt – oder sich diesen auch nur nähert – muss man zumindest die Kopfbedeckung, meistens aber auch Schuhe und dergleichen ausziehen. Aus Respekt. Mich beeindruckt das, es stärkt dieses Empfinden von Reinheit, das ich schon bei der Ankunft verspürte.

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Der Weg hinauf zum „Tiger’s Nest“ führt uns zunächst durch tiefe, satt grüne Waldketten und entlang schmaler Wege. Drei bis vier Stunden soll die Wanderung dauern, sagte man mir, als ich mir im Tal gerade meinen „Gandalf-Stock“ gekauft hatte. Guru Ripoche hat es da leichter gehabt. Der Legende nach soll er im achten Jahrhundert auf dem Rücken einer Tigerin von Tibet aus ins Paro-Tal geflogen sein, um die Region im Westen des Bhutans zum Buddhismus zu bekehren. Heute wird der gute Mann als zweiter Buddha verehrt. Reife Leistung, Guru. Deine Tigerin würde ich jetzt auch nehmen. Aber ich darf ja nicht jammern. Die erste Stunde des Aufstiegs beschreiten wir nämlich – genau: auf Maultieren. Tobgay hat das nicht nötig. Geduldig läuft er neben uns faulen Deutschen her, die da sprichwörtlich auf dem hohen Ross sitzen, während unsere „Trägertiere“ sich gemächlich, aber zielstrebig ihren Weg über Stock und Stein durch die steilen Schikanen bahnen. Nennt mich John Wayne, Freunde – und zückt Pfeil und Bogen! Das ist der Nationalsport der Bhutaner. Immer wieder blicke ich zurück, das Dzong sieht von hier oben wie ein „Dzong-chen“ aus. Die vielen Chilischoten, die die Bhutaner auf ihren Dächern trocknen, verschleiern die Häuser darunter als rote Flächen. Gelb strahlen die Reisterrassen, eines der wenigen Flugzeug, die hier täglich landen, umkurvt gerade die steilen Wälder und stürzt sich auf die Landebahn. Es sieht schon irre aus hier.

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Nach gut einer Stunde müssen wir absteigen. Von hieran gehe es nur noch zu Fuß weiter, sagt Tobgay und reicht mir meinen Wanderstock. Höher und höher geht es, mal auf einem breitgetretenen Pfad, dann über schmale Treppchen. Und das „Tiger’s Nest“ kommt immer näher – und mit ihm wächst die Faszination für dieses atemberaubende Gebilde. Die dichten Wälder eröffnen nach gut der Hälfte des Aufstiegs plötzlich auf einen Felsvorsprung, von dem man einen herrlichen Blick auf das Kloster hat. Der Schweiß rinnt mir die Stirn herab, als ein Mönch – in seiner typischen weinroten Robe – vorbeikommt. Er nimmt das steile Geläuf wie einst Tour-De-France-Sieger Lance Armstrong die Pyrenäen.

 

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Bevor wir die letzten Meter hinauf zum Kloster nehmen, führt uns der Weg über eine traumhafte Brücke, die mit den „Windpferden“ verziert ist. Wir halten kurz und erfrischen uns an den Strömen eines Wasserfalls.

Während man als Nicht-Buddhist bis vor einigen Jahren das Kloster lediglich von der gegenüberliegenden Seite betrachten durfte, ist der Zutritt mittlerweile gestattet. Wir entledigen uns unserer Schuhe und Caps, betreten den Tempel, in dem sich von den dort lebenden Mönchen gut bewachte goldene Statuen buddhistischer Gottheiten befinden. Herrlich ruhig ist es hier drin, Räucherstäbchen versüßen die reine Luft, vereinzelt gehen „Monks“ ihren Gebeten nach. Die vielen Opfergaben und die wunderschönen Gemälde zeugen von der Verehrung, die diesem Tempel entgegengebracht wird.

Vergessen ist alle Müh’ des Aufstiegs. Nun folgt der Abstieg. Und der fällt dem einen bekanntlich leichter als dem anderen.

Noch mehr verzaubert das Video des Filmschaffenden Marco Roth, der die Eindrücke seiner Reise in Bewegbild festgehalten hat:

Der Blogger Marcel Schlegel (Text) war gemeinsam mit dem Reisefilmer Marko Roth (Video und Fotos) in Bhutan unterwegs, wo sie den Alltag der Menschen in dem recht abgeschotteten Land intensiv kennenlernen durften. 

Marcel Schlegel

Marcel Schlegel

Marko Roth

Marko Roth

 

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