Nach weiteren zwei ausgelassenen Karnevalstagen muss sich das Leben auch in Bolivien wieder normalisieren. Doch diese Rückkehr zur Normalität benötigt etwas Zeit. Geduld war also angesagt in den letzten Tagen. Am Montag machten wir uns also sofort morgens aus dem Staub. Santa Cruz zum Karneval, das geht für Karnevalsmuffel wie uns gar nicht. Will ich meine paar sauberen Sachen vor der Rückkehr in das großstädtische Leben Montevideos und Buenos Aires nicht noch durch Farbbeutel ruinieren. Wir hatten Glück und erwischten sofort ein Taxi Richtung Samaipata, das gleich losfuhr oder treffender losraste. Um 11 Uhr erreichten wir den wunderschön in Berghängen gelegenen Ort Samaipata, dem leider die Ruhe durch die Festlichkeiten fehlte, dem man aber durchaus ansah, dass er nur in wenigen Tagen in seinen Dornröschenschlaf zurückfinden würde. Wir schliefen ca. 1 km vom Ortskern entfernt etwas außerhalb. In diesem Viertel haben sich die Europäer riesige Grundstücke ergattert. Ob Holländer, Österreicher, Deutsche – hier ist es sehr international. Und wie gut kann man sich vorstellen, den Traum der eigenen Rente in diesem verschlafenen Nestchen zu leben. Der Karnevalslärm war also weit weg von uns, und wir fanden bis zum Ende dieser nervtötenden Zeit doch noch etwas Ruhe.
Das Organisieren hingegen fiel etwas schwerer, denn Touren werden in diesen Tagen nicht angeboten und auch danach läuft nur alles schleppend an. So fand Ben, bei dem wir die Amboro Tour gebucht hatten, beispielsweise für Aschermittwoch keinen Fahrer, der uns nach Bermejo hätte fahren wollen (oder vielmehr können). In den und auf den Straßen sah man das Ausmaß der Feierlichkeiten sehr deutlich. Am Dienstag schaffte man es ja noch nicht mal mehr richtig zum Musizieren, denn der Mund ließ wohl nur noch Flaschenhälse anstatt Blasinstrumente an sich ran. So viele Besoffene habe ich seit langem nicht mehr gesehen. Trotzdem schafften wir es, uns noch El Fuerte, die historische Weltkulturerbestätte auf einem 10 km entfernten Hügel anzusehen. Hier sind Einflüsse aus der Vorinkazeit von Bewohnern Amazoniens, von den Inkas und von den Spaniern zu sehen. El Fuerte war einmal ein Handelsknotenpunkt der Inkas auf dem Weg nach Peru. Heutzutage sieht man hauptsächlich nur noch Kerben in einem riesigen Fels, der sich über eine Bergkuppe erstreckt. Die meisten Muster sieht man jedoch von oben und bleiben dem Besucher somit verborgen. Nur ein zuvor gezeigtes Imagevideo öffnet dem Besucher den Blick auf die ganze Stätte.
Am Mittwoch sind wir dann in den südlichen Amboro NP gefahren. Auf der letzten Bergkuppe auf dem Weg zur Refugio Los Volcanes setzte uns Ben dann aus, startete eine Rakete und meinte, es würde uns ein Jeep von der Refugio abholen. Wenn wir wollten, könnten wir aber auch laufen. Da mir warten zu dumm war, wollte ich schon einmal dem Jeep entgegenlaufen. Hinzu kam, dass es anfing, immer heftiger zu regnen und ich auch ziemlich erkältet war. Also schnell los. Der Weg ins Tal brauchte nur mehr Zeit als ich dachte. Nach 45 min war ich endgültig durchweicht, meine Nase lief nur noch und vom Jeep war weiterhin weit und breit nichts zu sehen. Ich rannte nur noch und Ninette war auch hinter mir außer Sicht. Bald würde ich die Talsohle durchqueren, dass es dann aber immer noch mind. 1 km zur Refugio im strömenden Regen sein würde, ahnte ich nicht. Plötzlich tauchte doch der Jeep auf. Ein Coca-kauender Mann murmelte mit dicker Backe, dass er mich mitnehmen könnte. Ich wies ihn darauf hin, dass meine Schwester und die Köchin mit ihren zwei Kindern noch hinter mir wären. Also fuhren wir den Berg nahezu wieder bis zurück, da die Köchin sich gleich oben unter eine Wurzel gekauert hatte. Im Tal angekommen, kuschelte ich mich in der sehr schönen Unterkunft erst einmal in eine Decke. Leider ließ der Regen nicht so schnell nach, so dass wir keine längeren Wanderungen machen konnten.
Am Spätnachmittag gingen wir die direkte Umgebung der Refugio mit dem Guide Miguel ab. Wir liefen hauptsächlich am Rio Elvira entlang und schauten uns Wasserfall und Stromschnellen an, die durch den Regen gewaltiger als wohl üblich wirkten. Am zweiten Tag sollte es gleich um 8 Uhr losgehen. Ja keine Zeit verlieren, bevor es wieder regnen könnte, denn der Himmel war noch immer wolkenverhangen. Wieder begleitete uns Miguel auf dem Weg oder vielmehr marschierte er wie schon am Vortag schweigend vor uns her. Hatten wir eine Frage, beantwortete er uns diese mit kurzen Sätzen. Lieber war es dem lustlos dreinblickenden jungen 17 jährigen Mann aber, nicht so viel beantworten zu müssen. Schweigen scheint in Bolivien eine Tugend zu sein. Inzwischen haben wir begriffen. Ein Guide muss nicht reden, sondern begleitet lediglich, damit der Tourist sich nicht verläuft. Wir liefen dicht bewachsene Hügel hinauf und hinab und wurden begleitet durch den Lärm krächzender Papageien. Optisch reizvoll waren vor allem die farbenfrohen Schmetterlinge. Einen Tukan entdeckte Miguel sogar und deutete stolz auf ihn. Mit solch einer Überraschung hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gerechnet, denn hatte ich da schon herausgefunden, dass sich unser Guide nur aus Barmherzigkeit zu seiner Familie dazu hinreissen ließ, uns Touristen die schöne Flora und Fauna seiner Heimat zu zeigen. Denn in der deutschen Refugio arbeitetet nur eine einzige Familie, die kochte, leitete und führte. Er war nun mal ein junger Knabe aus dieser Familie mit vielen Träumen, die er wohl träumte. Während er mit uns durch seine Heimat schritt. Er sei Elektriker und hätte schon in Corumba/ Brasilien gearbeitet. Sein Traum sei nun, am Nordpol zu arbeiten. Er kenne da eine Firma. Vielleicht klappt es demnächst. Zu gönnen sei es ihm, denn mit Strommasten muss man nicht kommunizieren. Meine Erwartungshaltung ist inzwischen sehr gering, aber Kommunikation ist hier wirklich nicht groß geschrieben. Außer der Köchin kommunizierte hier wieder niemand mit uns Gästen (neben uns war noch ein brasilianisches Ehepaar hier untergebracht). Vielleicht vermuten die Bolivianer so viel Instinkt und Intelligenz hinter den Touristen, dass sie glauben, jeder Schritt erschließe sich uns als logische Konsequenz. Nun ist es auch so, dass man vieles ahnen kann, aber die Gewissheit ist schon schöner. Wenn ich weiß, dass wir am zweiten Tag um 15.30 Uhr wieder auf der Bergkuppe sein müssten, dann kann ich mir ausrechnen, dass ich zu Fuss wohl 2-2,5 Stunden dafür bräuchte, mit Jeep wohl 20 min, aber wer sagt mir, ob ich zu Fuss oder mit Jeep auf diesen Berg hinaufkomme? Wann geht es also los? Diese Frage stellt sich mir in Bolivien immer wieder und dies nicht nur auf einer Tour. Jeder Restaurantbesuch wird hier zu einer wartenden Tortur. Wenn ich ahne, in zwei Stunden Hunger verspüren zu können, dann sollte ich mich schon einmal auf den Weg zu einem Restaurant machen. Denn dann, wenn der Hunger richtig da ist, hätte ich nur so eine Chance ihn auch rechtzeitig bekämpfen zu können. Besonders eifrig ist jegliches Hostelpersonal. Ein Frühstück mit Kaffee, Brötchen mit Marmelade und einem Fertigsaft stellt bisher nahezu jedes Personal vor eine wahre Herausforderung. Am liebsten möchte man die Brötchen, Marmelade und den Kaffee deren behäbigen Hände entreißen und laut schreien, bekommt Euren Arsch selbst hoch und verlasst Euch nicht immer nur auf den Staat und die anderen. Ich weiss inzwischen nicht, ob Sozialismus das richtige Rezept für so viel Behäbigkeit ist, wie ich sie in Bolivien Tag für Tag erlebe – von Norden bis Süden, von Osten bis Westen. Ohne arrogant wirken zu wollen, ich ahne nach nunmehr 5,5 Wochen in diesem Land dessen Grund seiner Rückständigkeit erkannt zu haben. Es sind nicht immer nur und ausschließlich die anderen. Manchmal liegt das Schicksal auch in der eigenen Hand.