„Spürst Du etwas?“ „Nein, und Du?“ Während meine Schwester etwas belustigt aus dem Lonely Planet zitiert, lass ich die Maya-Ruinen von Tulum auf mich wirken. Durch ihre 784 m lange dreiseitige Ummauerung, die nur zum Meer geöffnet ist und bei Sonnenaufgang das Licht in sich auffängt, ist Tulum durchaus etwas Besonderes. Und das Setting auch: Eine historische Stätte auf Klippen küsst die weißen, palmengesäumten Sandstrände und die türkisblaue Karibik. Das ist Postkartenidylle pur und schreit nach Besuchern.
Ein Besuch der Mayastätte in Tulum – Zwischen Vorstellung und Wirklichkeit
Alles ist herausgeputzt, Wege gesäubert, Rasen gemäht, auf dem die rund 700-1000 Jahre alten Ruinen herausragen, als seien sie erst frisch erbaut. Zu wenige Ecken und Kanten, zu wenig wilde Natur. Kaum zu glauben, dass sie bei ihrer Wiederentdeckung 1842 vom Dschungel überwuchert waren. Nur wenige Bäume spenden Schatten. Von Tulum wurde im 13. und 14. Jahrhundert der Sternenhimmel beobachtet, besonders Venus war im Visier. Fenster sind so ausgerichtet gewesen, das sie die Sonnenstrahlen zur Wintersonnenwende auffangen. Eine leichte Meeresbrise zerzaust meine Haare, als ich in der brütenden Hitze durch die Hügellandschaft schlendere. Ein Mädchen neben mir richtet ihre geöffnete Mähne und rückt noch schnell an ihrem Leopardengemusterten Bikinioberteil. Dann wird der Selfiestick ausgefahren, um den urlaubsgebräunten Körper vor post-klassischer Maya-Kulisse einzufangen.
Hinter uns schieben sich durchnummerierte Gruppen durch das Wegesystem. Bändchen leuchten an den Handgelenken – nicht nur 1, manchmal 3, 4. Ich bin fasziniert, erschrocken und erheitert zugleich. Die zwei komplett im Bikini eingekleideten Mädchen packen ihre Fotoutensilien ein und begeben sich auf die Suche nach weiteren szenischen Plätzchen für ihren kleinen Foto-Shoot. Schnell schiebt ein junger Kerl in langen Outdoorklamotten seine Freundin vor den Tempel des Windgottes. „Stell Dich mal schnell hin, ich mache ein Foto.“ – seine Worte in Richtung Freundin unterstreichen sein entschlossenes Vorhaben. Effizient ist er und deutsch dazu. Deutsche würden niemals im Bikini durch solch eine historische Stätte spazieren. Oder zumindest anderswo. Posen ist ebenso wenig ihre Stärke. Da können sie den Latinas und Amerikanerinnen keinen Podestplatz streitig machen.
Tulum ist gefühlt die am meisten besuchte Stätte, die ich auf meinen Reisen in ferne Länder gesehen habe. Und nach dem Besuch spare ich mir tatsächlich Chichén Itzá und auch auf das Tauchen in den umliegenden Cenoten habe ich keine Lust. Ich weiß nicht, welchem Mittel der Lonely-Planet-Autor erlegen ist, um den magischen Reiz vergangener Tage aufzuspüren. Ich selbst fühle mich rein atmosphärisch ähnlich wie am Brandenburger Tor.
Besonders eng wird es am Schloss, dem Castillo, auf der 12 m hohen Kalksteinklippe, von wo eine Treppe hinunter an den schmalen Strandstreifen führt. Ein Foto mit Ruinen und Strand ist das, wonach hier jeder dürstet. Die Königsdisziplin jedoch ist, dieses Bild ohne Menschen hinzubekommen, ohne Selfie-Sticks, Fotoapparate oder Handys auch.
Ich setze mich kurz und lasse das Treiben auf mich wirken. Die Besucher traben durch die archäologische Stätte, als läge sie so quasi auf ihrem Weg zum Strand. Und irgendwie ist es ja auch so. Manch ein Gast hat die Aussage des DUMONT Reise-Handbuchs zu wörtlich genommen, die da sagt: „Tulum bietet dem Besucher Kulturerlebnis und Karibikurlaub in symbiotischer Perfektion.“ Badehandtücher sind um die Hälse geschlungen, Schnorchelbrillen lugen aus den Taschen und wer nicht in kompletter Badebekleidung erscheint, trägt meist zumindest oben nur ein Bikinioberteil. Das ist übrigens auch der Style in Tulum Downtown.
Downtown Tulum
Ein weiteres Accessoire dort ist das Rad. Räder sind ja auch eine feine Sache, wenn man sie „bedienen“ kann. Ist man als Passant unterwegs, wird man schnell beiseite gedrängt mit einem gewollt witzelnden „Ding Dong“, während man sich fest an den Lenker krallt und im wackeligen Schlängelkurs vorbeiruckelt.
Tulum ist eine wunderbare Spielwiese an relaxter Zurückgezogenheit und großstädtischer Hippness – auch oder gerade was die Café- und Restaurantlandschaft betrifft. Cold pressed Juice, cold brewed Coffee etc. Als ich am Morgen meinen „himmlischen“ Kaffee im „Del Cielo“ schlürfe, vergesse ich einen Moment, in Mexiko zu sein. „Welcome home“ steht in schöner Handschrift mit Kreide auf einer Tafel geschrieben und ich fühle mich tatsächlich wie sonntags in Berlin-Neukölln. Ein schöner und schrecklicher Gedanke zugleich. Bestellt wird übrigens auch hier auf Englisch. Der Reiz der Einzigartigkeit fließt in der angenehmen, globalisierten Welt zu einem austauschbaren Einheitsbreit zusammen. Den Verlust des Besonderen muss man eben hinnehmen, aber man weiss dafür, was man bekommt.
Am Strand unterhalb der historischen Stätte von Tulum
Und dann liege ich unter einer Palme, blicke in das Blätterdach und lausche dem Rascheln der Wedel und dem Rauschen des Meeres. Die Sonne kämpft sich durch die Finger der Blätter und spannt auf meiner hellen Haut, die Spuren des viel zu langen deutschen Winters trägt. Kokosnüsse schweben ein paar Meter über meinem Kopf. Pelikane gleiten vor dem tiefblauen Hintergrund, den der Himmel bietet, in Formationen durch die Lüfte. Mit dem Blick nach oben gerichtet, bin ich angekommen, nicht nur körperlich, auch mental. Ich könnte den Moment hashtaggen mit #mindfulness #awareness #selflove #recover #dream #rest #calm #peace #positive #positivevibes #inspiration #mind #body #soul. Doch lasse ich meinen Blick ins Wasser und den Strand entlang schweifen, sehe ich die Originale der Instagrambilder, die sich unter #selfie und #tulum finden lassen, was auf mich weniger inspirierend wirkt. Ich bin umringt von jungen Touristinnen, die mit Handysticks herumfuchteln und mit Duckface in ihre Kameras lächeln. Anstatt den Augenblick zu leben, wird der Moment inszeniert. Der Strand ist nur eine schöne Kulisse, die dem hübschen Gesicht einen Rahmen gibt.
Mexikos touristische Plastikwelt
Ein Pärchen baut sich im flachen, warmen karibischen Wasser auf – er mit Kamera, sie mit ihrem Körper. Wieder wird gepost, was das Zeug hält. Dann baut der Junge ein Stativ mitten im Wasser auf, um von der nächsten Welle umgerissen zu werden. Dies amüsiert nicht nur mich, sondern auch die anderen Badegäste, die eben noch mit sich und ihrem eigenen Handy beschäftigt waren.
Noch keine 48 Stunden sind vergangen, als ich auf Yucatán landete. Als ich nachts um 3.30 Uhr deutscher Zeit durch die Zona Hotelera von Cancún fuhr, in der sich eine Hotelanlage an die nächste reihte, wähnte ich mich in einem Traum. Eine künstlich geschaffene Plastikwelt, eine Blubberblase des Amüsements, die mich mehr an Miami erinnerte als an Lateinamerika, zog an meiner Fensterscheibe vorbei. Als einzige Frau im Bus Richtung Innenstadt war es fast amüsanter, die mexikanischen Jungen auf den vorderen Fensterplätzen zu beobachten, wie sie erstaunt und begeistert den kurzen Röcken, die zu lauter Musik über die Gehwege schaukelten, nachschauten und die Umrisse der Hotelanlagen zu erfassen versuchten. Die Spring Break ist vorbei, aber trotzdem finde ich hier genau das, wonach es mich auf Reisen gar nicht dürstet. Tulum und Cancún sind ein süß-warmer Touristentraum, aus dem ich erst erwache, als ich in Campeche aus dem Bus steige und das wirkliche Mexiko spüre.
Was man sonst noch wissen sollte?
Die beste Besichtigungszeit der Mayastätte Tulum
Die Mayastätte Tulum ist von 8 bis 17 Uhr geöffnet. Wenn Reiseführer sagen, man solle zum Sonnenaufgang dort sein, bevor die Reisegruppen kommen, ist das daher etwas absurd. Die Reisegruppen kommen vornehmlich morgens. Daher würde ich immer den Nachmittag empfehlen. Wem Hitze nichts ausmacht, mittags war auch nicht so viel los.
Eintrittspreis: 70 Pesos
Lage und Erreichbarkeit von Tulum
Die Mayastätte Tulum liegt ca. 130 km südlich von Cancún und vor den Toren der Stadt Tulum. Collectivos verkehren ständig an der Riviera Maya entlang, so steigt man einfach ein und lässt sich beim Ausgang an der Carretera raus.
Der ADO-Bus von Cancún hält ebenso an einer Haltestelle bei der Mayastätte.
Wer in Tulum selbst schläft, mietet sich am besten ein Rad (das macht hier fast jeder) oder macht einen ausgedehnten Spaziergang zur Mayastätte.
Radverleih
Iguana Bike Shop: 100 Pesos für 25 h
Für Kaffeeliebhaber – Nette, hippe Cafés
- Del Cielo Café
- Ki’Bok Café
- Arts & Coffee Café
Unterkunft
Die Unterkunftspreise waren verglichen zu anderen mexikanischen Orten höher, so dass ich mich für ein Airbnb-Zimmer entschieden habe. Ich schlief im Bonita Tulum von Marisol und kann dies weiterempfehlen.
Reiseführer
- Ich reiste mit dem Mexiko Dumont Reisehandbuch.
Sehr schön geschrieben. Ich kann gut nachempfinden wie du dich gefühlt hast. So etwas ähnliches ist mir letztes Jahr in Mostar passiert. Anstatt dass Touristen diese Stadt mit ihrer einzigartigen Brücke und Geschichte haben auf sich wirken lassen, wurden nur Selfies gemacht. Ich habe die Leute nachher sogar noch auf Instagram entdeckt. Mir ist es auch schon passiert, dass andere von Orten geschwärmt haben und ich das nicht nachvollziehen konnte, wie du mit dem Lonely Planet. Nichtsdestotrotz würde ich es mir trotzdem ansehen. Mexiko steht definitiv noch auf meiner Wunschliste.
Liebe Grüße
Myriam