Ein sanftes Grundrauschen anfahrender Autos tönt durch die gut abgedichtete Fensterscheibe hinauf in meine Wohnung. Es ist ein sonniger Morgen, an dem man jeden Sonnenstrahl einfangen und die frische Luft in das vom Winter gezeichnete Gemäuer hineinlassen möchte. Ich öffne das Fenster und lausche dem Plätschern des Springbrunnens, der sich unter die Geräuschkulisse mischt. Imposant tosen 43 Wasserfontänen aus dem „Schwebenden Ring“. Die mittlere Wassersäule sprudelt fast 18 m hoch in den blauen Himmel. Es gibt schlechtere Ausblicke, denke ich mir, während das Plätschern den restlichen Lärm fast wegdrückt.
Der ewige Kreis
Ein halbes Jahr schaue ich nun fast jeden Morgen hinunter auf die haltenden Autos und Radler. An manchen Tagen versuchten junge Leute mit Akrobatik und Jonglieren die Wartezeit derer zu verkürzen. Autofahrer mögen das Unerwartete. So war es nicht verwunderlich, dass der Handstand Geld einbrachte, jonglierende Bälle und Keulen jedoch nichts.
Dichte und Modetrends der Radfahrer ändern sich mit der Jahreszeit. Quietschgelbe Warnwesten und Helme haben vor allem in den dunklen Monaten Hochkonjunktur. Mit den wärmenden Sonnenstrahlen mehren sich die Radler an der Ampel. Mit dem einkehrenden Frühling mischten sich noch Jogger und Touristengruppen unter sie. Erstere Richtung Volkspark, Letztere Richtung Grünstreifen oder Brunnen.
Inzwischen kenne ich die Ampelphasen gut, weiß, dass Autofahrer regelmäßig die Rotphase vor meinem Haus einfach überfahren. Habe auch gelernt, dass man die Karl-Marx-Allee als Fußgänger nur in Richtung Vesuvio Restaurant bequem überqueren kann. Richtung HuaTing muss man schon sprinten, um nicht auf dem Mittelstreifen gefangen zu sein.
Ich habe die Hochblütezeit der Narzissen auf dem Grünstreifen verpasst, während ich zwischen Kakteen in Mexiko spazierte. Welk hängen nun die einst leuchtenden Kreise in der Grasfläche, werden immer mehr zertrampelt. Die Gräser wuchern wild, doch manch romantische Paare lassen sich davon nicht abhalten und zelebrieren dort ein Picknick, während um sie herum der Verkehr kreist. Auch Touristen und Hobbyfotografen bauen allabendlich ihre Stative im hohen Gras des Mittelstreifens auf und konkurrieren um das szenischste Bild vom Fernsehturm bei Sonnenuntergang. Ich wiederum kann aus meinem Fenster nur Fotos von Menschen machen, die fotografieren. Der Blick in den Westen bleibt mir hingegen verwehrt.
Großstadtkino
Eine übergroße Scheibe trennt mich von dem Leben auf der Allee und dem Platz, durch die man einst große Aufmärsche geboten bekam. Heute sind es eher Halbmarathon oder Formel E, die sich neben dem alltäglichen Trubel hier abspielen.
Dort, wo Touristen auf alteingesessene Anwohner treffen, wo die Grenze zwischen Friedrichshain und Mitte verläuft, wo Plattenbauten der 60er Jahre und Zuckerbäckerstil sich vereinen bin ich zuhause.
Es ist ein halbes Jahr vergangen, seit ich meinen geliebten Travekiez verließ, in dem ich 15 Jahre lebte. 2 km trennen mich, und doch sind es Welten. Kiez gibt es hier nicht, wo ich wohne. Stattdessen genieße ich das Großstadtkino. Wenn ich aufwache, schaue ich auf die Platte hinterm Haus. Optisch unschönere Ecken der DDR-Hinterlassenschaft werden im Frühjahr von zartlila Fliederblüten kitschig schön verpackt. Wenn ich Kaffee koche, blicke ich auf die Auto- und Rad- und Autokolonnen, die sich stadteinwärts schieben. Am Wochenende drehen Hotrods, Stretchlimousinen, Trabisafaris und Bierbike ihre Kreise um den Strausberger Platz.
Und dann sind da die Touristengruppen, die immer wieder unter meinem Fenster stehen und in das Gebüsch starren, aus dem schon seit Februar Vogelgezwitscher tönt. Denn dort unten wohnt Karl Marx. Im Busch versteckt muss der Tourist schon etwas suchen, um die Büste zu finden. Mal liegen verwelkte, mal auch frische Blumen neben ihm. Ein paar Fans scheint er zu haben. Karl Marx ist mein bekanntester Nachbar, könnte ich sagen. Zumindest seine Büste.
Mein Nachbar, das unbekannte Wesen
Ansonsten weiß ich nicht viel über meine Nachbarschaft. Räder und Gewohnheiten haben im Haus keine Gesichter, sondern sind die Play-Taste meiner Fantasie für das Kapitel „Meine Nachbarn, die unbekannten Wesen“. Ein komisches Gefühl, vertrauten Geräuschen und Stimmen eigene Konturen zu verleihen, verbringt man doch fast mehr Zeit mit den sprechenden Wänden, als mit Bekannten. Und meine Wände sprechen eine recht deutliche Sprache, zumindest, was das Leben hinter Couch und Bett betrifft. Sie gleichen in Stärke und Durchlässigkeit den Ost-Plattenbauten, die auch unverwanzt das Leben des Nachbarn preisgaben.
Schreie tönen immer wieder durch die Wohn- und Schlafzimmerwände. Hin und wieder zehrt das Schreien des Babys im Nachbarhaus auch an den Nerven der Eltern, dann ist man eben gemeinsam laut. Die Chancen stehen gut, der Familie in Kürze ein Gesicht zu geben – denn endlich ist nun Frühling. Balkonien macht es möglich. Doch noch dient deren Außenbereich als Wäscheplatz und ich bin viel zu selten zuhause. Über mir wohnen nachtaktive Menschen. Es wird gern etwas lauter kommuniziert. Beide Mietparteien machen es mir nicht schwer, meine manchmal lautere Musik zu rechtfertigen. In der obersten Etage vermute ich die jüngsten Nachbarn, mit ihnen konkurriere ich regelmäßig um die letzte Aufzugfahrt im Haus. Nach Mitternacht befindet sich der Fahrstuhl immer auf Etage 7. Und dann gibt es da noch einen herrlich erfrischenden Mann mit breit britischem Akzent und Mini-Hund, der mir immer wieder ein Lächeln entzaubert. Er ist wohl der einzige, der mich nach meinen ersten Monaten im Haus erkennt und ein bisschen kennt – vorgestellt hat er sich gleich bei der ersten gemeinsamen Fahrt im Aufzug. Er Simon, ich Brückner. Danach wurde mir klar, dass Simon wohl eher sein Vorname war. Ansonsten bleiben Namen nur das Etikett auf Briefkästen und Klingelschildern.
Wohnen am Strausberger Platz
Aufgrund der hohen Apothekendichte, einem altersgerechten Kaisers(-jetzt Edeka)-Markt und der etwas altbackenen Gastronomie (Haus Berlin, Ristorante a Mano und Vesuvio, China Restaurant HuaTing) vermutete ich einst, ins Rentnerparadies gezogen zu sein – doch das stimmt mitnichten. Hier gibt es zwar kaum ein nettes Café oder eine Bar, stattdessen sind Alex und Ostbahnhof in Laufdistanz, Spree, Clubs und Volkspark ebenso. Geht man kurz vor Ladenschluss einkaufen, ist man garantiert unter 20-30jährigen. Langsam findet hier ein natürlicher Austausch statt, meinte einst die Vermieterin. Auch meine Zimmer bewohnte zuvor eine Mieterin von der ersten Stunde an. Ich frage mich, welche Geschichten meine Wände erzählen würden, könnten sie es tun!
Der heutige Strausberger Platz entstand mit dem Bau der einstigen Stalinallee und lag zuvor ein paar Meter entfernt. Die Turmbauten und Wohnkomplexe am Strausberger Platz sind denkmalgeschützt, ebenso wie die Brunnenanlage. Das 1952 entstandene Haus des Kindes und Haus Berlin sind Erinnerungsfetzen meiner vielen Besuche in den 80er Jahren. Damals wirkte diese Ecke Berlins auf mich recht großstädtisch, heute eher wie aus einer anderen Zeit. Die 90 Meter breite Stalinallee, die 1961 in Karl-Marx-Allee umbenannt wurde, zählte zu monumentalsten Bauprojekten der DDR und galt aus „erste sozialistische Straße auf deutschem Boden“. Der neugestaltete Strausberger Platz mit seiner Begrünung in der Platzmitte nach einem Entwurf von Rolf Rühle feiert dieses Jahr sein 50Jähriges. Und Karl Marx, mein lieber Nachbar, wäre nächstes Jahr 200 Jahre alt geworden – sicherlich gibt’s dann noch mehr Besucher, Blumen und vielleicht auch Feiern unter meinem Fenster. Denn so viel Ehre sollte uns unser bekanntester Nachbar schließlich wert sein.
Ach wie schön, dann wohnst du ja fast bei mir um die Ecke – also als ich noch in Berlin gewohnt habe. 😉 Die Karl-Marx-Allee finde ich total faszinierend, dieses pompöse Stück Geschichte, herrlich! Ich hatte auch mal nach einer Wohnung dort gesucht, leider erfolglos.
Die Tilsiter Lichtspiele ist übrigens ein schönes kleines Programmkino, nicht sooo weit weg von dir, das kann ich empfehlen!
Liebe Grüße in die Heimat!
Mandy
Danke, liebe Mandy. Ich wohne ja seit 15 Jahren in Friedrichshain (zuvor im Travekiez), doch hier fühlt sich das Leben mehr nach Mitte an und man hat die Geschichte noch intensiver vor Augen. Manchmal fehlt mir das Kiezleben etwas, hier ist man doch arg umzingelt von Plattenbauten.
In die Tilsiter Lichtspiele gehe ich übrigens auch sehr gern 😉 Liebe Grüße Richtung Van, Madlen