Der Duft des Broilers, der Wohnwagen mit Vorzelt auf dem Campingplatz, der Windschutz im Sand des Ostseestrandes von Zempin – Erinnerungen aus meinen Kindheitstagen in den 80ern trage ich auf meiner Reise nach Usedom als Fragmente mit im Gepäck. Nichts von dem finde ich wieder. Und doch fühlt sich das Unbekannte so wunderbar bekannt an – gewohnt, gar vertraut. Ich will nicht das aufspüren, was mich in Nostalgie versetzt, sondern die Ecken neu entdecken, die ich einst links und rechts liegen ließ, auch auf meinen späteren Wochenendausflügen, die mich immer nur direkt ans Meer brachten. Dabei gibt es auf Usedom so viele wunderbare Orte – hinter den Kaiser- und Bernsteinbädern, im Hinterland. Unprätentiös und gespickt mit Naturschätzen, die man sich weg von den Urlaubermassen auch in den Sommermonaten einmal anschauen sollte.
„Vielleicht besteht das eigentliche Abenteuer des Lebens nicht darin, das Unbekannte aufzuspüren, sondern sich in das Bekannte hineinzufinden. Ich finde die Wahrheit des Unsensationellen spannend.“ (Roger Melis)
Wanderung im Lieper Winkel
Inselsafari Usedomer Hinterland
Wanderung Golm
Wanderung Südspitze Gnitz
Zeesenbootfahrt im Krumminer Wiek
Auf den Spuren der Vergangenheit in Peenemünde
Surfen und Paddeln in Karlshagen
Der Lieper Winkel – die Halbinsel auf der Insel
Das letzte Stück meiner Wanderung auf dem Lieper Winkel laufe ich die Landstraße entlang. Sie ist erwartungsgemäß sehr wenig befahren. Vor mir schlendert seit 10 Minuten ein Fuchs auf dem Asphalt. Selbst das entgegenkommende Auto lässt ihn nur flink ins Rapsfeld ausweichen, um kurz darauf seinen Weg auf der Straße fortzusetzen. Kommt man von den Bädern, taucht man hinter Krienke in die Stille ein. Man betritt die Halbinsel auf der Insel. Eine prachtvolle Kastanienallee führt von hier nach Rankwitz – vorbei an der 700 Jahre alten Suckower Eiche, die inzwischen leider stark beschädigt ist.
Den Rundumblick über Achterwasser und Peenestrom genießt man am besten vom 18 m hohen Jungfernberg. Was mich fasziniert bei meinem Spaziergang von Quilitz über Warthe, Grüssow und Liepe sind die reetgedeckten Fachwerkhäuschen und kleinen Fischerkaten, die diese Ecke Usedoms so wunderbar bodenständig wirken lassen und einen Kontrast zu der sonst so dominierenden mondänen Bäderarchitektur darstellen.
Bis zum Ende des 19.Jahrhunderts lebten die Menschen im Lieper Winkel isoliert. Wollten sie Kontakt zur Außenwelt, mussten sie mit dem Boot über das Achterwasser fahren. Erst der Bau der Straße brachte sie näher an das eigentliche Inselleben heran. Über einen Feld- und Waldweg erreiche ich einen Schilfgürtel, hinter dem die ersten Häuser von Warthe liegen. Längst haben sich auch ein paar neue Ferienhäuser unter die alten Gemäuer gemischt. Boote schippern auf dem Wasser, Fischkisten liegen vor dem Steg, hinter mir wiehert ein Pferd.
Ich laufe noch ein Stück weiter und erreiche ein kleines Hafenbecken, in dem Boote und ein Wassertreter liegen. Eine Kasse des Vertrauens befindet sich an der Schranke. Gern kann man den Platz nutzen und mit den Booten auf dem Achterwasser schippern.
Ich suche stattdessen Schutz vor dem eiskalten Ostwind, der heute über die Insel weht. Strandkörbe, Stühle und Bänke stehen verwaist im Sand verstreut. Nichts ist drapiert, nichts extra hergerichtet – und doch wirkt alles funktionstüchtig, wenngleich ein bisschen aus der Zeit gefallen. Der nächste Ort an dem Wander- und Radweg liegt wieder am Wasser. Das hübsche Gartencafé in Grüssow hat längst geschlossen, wahrscheinlich wäre ich an diesem kalten Tag auch der einzige Gast. Mein Weg führt mich über Liepe zurück nach Quilitz. Autos passieren mich nur ab und an. Menschen sehe ich kaum. Da ist der Fuchs, dort stehen Kühe und neben mir hoppelt ein Hase durchs Feld. Am Ende der Wanderung zieht es mich noch einmal ans Wasser. Durch einer kleine Ferienhaussiedlung schlänget sich der Weg – unter mir liegt der Peenestrom, über den ich beim Licht der untergehenden Sonne blicke. Auf meiner Rückfahrt stoppe ich noch in Neppermin, wo ich auf dem Uferweg entlang spaziere. Der Wind zerrt an mir als ich die Aussichtsplattform besteige. In der einsetzenden Dämmerung erklingt das Konzert von Vögeln aus dem Schilf. Wer braucht das Meeresrauschen im Ohr, wenn ihm die Tiere eine Gute-Nacht-Melodie spielen?
Inselsafari: Mit dem Land Rover Defender unterwegs im Usedomer Hinterland
„Jetzt könnt Ihr nach oben,“ mit einem Strahlen bietet uns Gunnar die Premium-Plätze auf dem Dach seines Land Rover Defenders an. Immer, wenn wir die asphaltierten Landstraßen verlassen, werde ich nun einen der drei Freiluft-Plätze auf der Decke einnehmen.
Einen Tag nachdem ich den Lieper Winkel besuchte, begebe ich mich auf eine Inselsafari. Diese führt mich zunächst zwischen Peenestrom und Kleinem Haff auf den Usedomer Winkel, der zu den abgeschiedensten Gegenden auf der Insel zählt. Wiesen, Weiden und Ackerflächen prägen die Landschaft. Eine unaufdringliche Meeresbrise liegt in der Luft, gerade so, dass man die Ostsee erahnen kann. Denn dort wo wir hinfahren ist das Stettiner Haff und der Usedomer See. Beide trennt eine enge Wasserverbindung voneinander, an die sich die kleinen Ortschaften Westklüne und Ostklüne schmiegen.
Wer hier urlaubt kommt im Sommer in den Genuss, abseits der Strandtouristen die Natur genießen zu können. Über Mönchow erreichen wir die 78 Einwohner zählende Gemeinde Karnin, die am Übergang der Peene in das Stettiner Haff liegt. Bis 1876 gab es keine direkte Verbindung zur Insel. Eine Brücke wurde in Karnin gebaut. Mit der Erweiterung zu einer Eisenbahnhubbrücke, die als modernste ihrer Zeit galt, wurde 1933 mit der Bahntrasse ein schneller Anschluss an Berlin geschaffen. In 2,5 Stunden erreichten die Hauptstädter damals die Insel. 1945 wurde die Gleisverbindung von den Nazis gesprengt. Erhalten blieb lediglich das Hubteil mitten im Peenestrom. Heute beherbergt diese Ruine der gesprengten Eisenbahnhubbrücke am kleinen Hafen von Karnin noch Turmfalken. Ein Museum im Bahnhof Karnin erläutert die Hubbrücke und gibt Informationen zur Geschichte der Eisenbahnverbindungen zur Insel Usedom, die ein Verein gern wiederbeleben möchte.
Über Morgenitz setzen wir unsere Fahrt in den Lieper Winkel fort. „Hier wohnen kaum noch Einheimische“ schallt es durch den Land Rover, als wir über das Kopfsteinpflaster des Kleinods holpern. Mit dem Finger zeigt Gunnar hinüber zur Töpferei, in der „Frau Saß“ während ihrer Dreharbeiten zum Usedom-Krimi wohnen soll. Besonders ins Auge sticht neben den liebevoll gepflegten Häusern und Gärten die turmlose Kirche.
Wir erreichen Rankwitz über einen Feldweg. Wieder dürfen wir für eine Weile auf dem Dach des Defenders den frischen Fahrtwind genießen. Es geht durch prallgelbe Felder. Der Rapsduft setzt sich in die Nase. Dann biegen wir in einen Waldweg ab, durch das Schilf schimmert der Peenestrom hindurch. Auf dem Dach weiche ich immer wieder Zweigen aus. Seeadler kreisen über uns. Kurz vor dem Hafen von Rankwitz stoppen wir an einer kleinen Badestelle. Links davon hat der Biber an den Stämmen des Waldes seine Spuren hinterlassen. Zwischen dem Schilf entdecken wir eine Biberburg.
Am Hafen liegt ein Ausflugsschiff. Der Kapitän schiebt gemütlich einen Einkaufswagen vor sich her und kommt dann zu einem Schnack rüber zu uns. Die Tische Gaststätte „Zur alten Fischräucherei“ am Hafen sind fast alle besetzt, trotz eines normalen Wochentags Ende April.
Wir verlassen den Lieper Winkel wieder über Krienke und steuern nun direkt den Platz am Achterwasser für unser Lunch an. An der Badestelle von Dewichow, am Krienker See, breitet Gunnar Käse, Wurst, selbstgemachten Quark und Marmeladen aus. Der perfekte Platz mit dem perfekten Ausblick. Es muss nicht immer das Meer sein, aber Wasserblick ist dennoch ganz schön.
Nach dem Mittagessen macht sich etwas Trägheit auf den Sitzbänken breit. Über Neppermin geht es nach Benz weiter. Wieder leuchten die Rapsfelder, hinter denen eine Bockwindmühle zum Vorschein kommt. Wir passieren Orte, die ich bereits am Vortag besuchte: So wie das wunderbare Gartencafé Zur alten Feuerwehr. Von Benz aus besteigen wir den Kückelsberg. Von hier überblicken wir den Thurbruch mit dem Gothensee bis zum Heringsdorfer Strand und nach Polen hinüber. Gunnar berichtet uns von dem höchsten Berg Usedoms, der in den Büchern der DDR nur als Nummer 2 gehandelt wurde. Erst nach der Wende wurde der Golm zur höchsten Erhebung gemacht, und das zu recht.
Noch einmal steigen wir aufs Dach – schauen über Weiden mit Pommerschen Schwarzkopfschafen und Kühen. Am Haff endet unsere Tour. Kaffeekanne und Kuchen breiten wir am kleinen Strand von Gummlin aus. Aus dem Schilf ragt der Mast eines alten Segelboots heraus. Schwäne schieben sich durch das Bild, das mir die kleine Öffnung zum Haff bietet. Über uns kreisen Möwen, deren Kreischen die ganze Geräuschkulisse bietet, die sich über die Landschaft legt. Ansonsten herrscht anmutige Stille, weil jeder den Augenblick genießt.
Wanderung auf die höchste Erhebung der Insel mit der Gedenkstätte Golm
Nachdem ich auf der Inselsafari am Vortag einiges über den Golm erfuhr, wollte ich diesen Ort an der polnischen Grenze auf einer Wanderung erkunden. Knapp 70 Meter misst der Hügel, was Golm im Slawischen heißt.
In Garz lasse ich mein Auto stehen und wandere nach Kamminke. Der Weg führt mich an Wiesen und Felder vorbei kurze Waldstücke bieten mir etwas Schutz vor dem Wind. Es stürmt und ist kalt, das gestaltet die Wanderung leider nicht ganz so angenehm. Nach 30 min erreiche ich den idyllischen Fischerort am Haff, der sich wunderschön in die sanfte Hügellandschaft einfügt. Am Friedhof folge ich einem Schild mit der Aufschrift Strand. Möwen kreisen über der rauen Wasseroberfläche. Muscheln knirschen unter meinen Sohlen. Eine Kröte liegt vor mir im Sand. Am Hafen sind ein paar Polen, die sich fotografieren und dann im Restaurant verschwinden.
Vom Hafen laufe ich die Dorfstraße den Hügel hinauf, der Wind nimmt hier wieder an Stärke zu und pustet über Felder und Wiesen. Ich komme vorbei an einer umzäunten Mühle und kurz darauf erreiche ich die Internationale Jugendbegegnungsstätte. Von hier führt mich ein Weg wieder hinab ins Dorf. Dann dauert es auch nicht mehr lange und ich erreiche den Eingang der Kriegsgräberstätte Golm, die zu den größten in Deutschland zählt. Am 12. März 1945 kamen bei einem Luftangriff auf Swinemünde mehrere tausend Menschen ums Leben. Viele der Opfer waren Zivilisten, darunter vornehmlich Flüchtlinge aus dem Osten, die aus Ostpreußen, Westpreußen und Pommern auf der Flucht nach Westen waren sowie Sklavenarbeiter und KZ-Häftlinge. Aus Angst vor Seuchen begrub man sie hier. Seit 1943 wurde der Ort bereits als Soldatenfriedhof genutzt.
Heute dient er als wichtiges Mahnmal gegen den Krieg. Kreuze stehen unter Bäumen und auf einer Wiese verstreut. Ein Schild weist darauf hin, dass Diebstahl zwecklos ist, weil das Material wertlos ist. Ein kleiner Schauder ergreift mich. Der mahnende Ort bedarf solcher Maßnahmen? Die idyllische Ruhe, die sich über den Hang legt, steht im Kontrast zu der Tragik dessen, was einst hier und anderswo passierte.
Stufen führen den Hang hinauf, vorbei an einer Skulptur namens „Die Frierende“ des Bansiner Bildhauers Rudolf Leptien. Zwölf Stufen, die für die dunklen Jahre der Herrschaft der Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945 in Deutschland stehen. Am Ende der Treppe thront ein mächtiger Beton-Rundbau des Rostocker Künstlers Wolfgang Eckardt. Tritt man ein, empfangen einen die Worte von Johannes R. Becher „Dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint“. Von hier laufe ich weiter den Golm hinauf bis ich die etwas zugewucherte Aussichtsplattform erreiche. Von dieser genieße ich einen etwas eingeschränkten, aber weitläufigen Ausblick bis nach Swinemünde und über das Stettiner Haff. Nur noch ein paar Mauerreste erinnern daran, das der Golm ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugsziel der Swinemünder Bewohner gewesen ist. Auch eine Gaststätte hat es hier oben bis 1943 gegeben. Die Gedanken klingen noch nach, als ich durch den Wald nach Garz zurücklaufe.
Naturschutzgebiet „Südspitze Gnitz“: Wandern an der Steilküste
Frage ich Einheimische nach ihrem Lieblingsort auf der Insel, fällt immer wieder ein Name: Gnitz. Die Augen leuchten, wenn sie über das wilde Steilufer, die duftenden Wälder und blühenden Feuchtwiesen der Halbinsel sprechen. Leider wurden gerade Zäune entlang des Wanderwegs aufgebaut, die eine Schafsherde vor dem Wolf schützen sollen. Ein Kopfschütteln und Schmunzeln lässt schnell die Meinung darüber erkennen. Dem Wolf werde ich sicherlich nicht begegnen, da sind wir uns alle sicher.
Wieder fegt der Küstenwind über die Wiesen und biegt Bäume in Schieflage. Von Lütow starte ich meine 1,5 stündige Wanderung. Mehr Zeit habe ich an diesem Tag nicht. Zunächst führt mich mein 4,5 km langer naturbelassener Weg immer am Schilf entlang, hinter dem der Peenestrom liegt. An manchen Stellen genieße ich den freien Blick übers Wasser. Muscheln knirschen unter meinen Füßen, als ich ans Ufer herantrete. Moorfroschmännchen sollen die Gegend zur Laichzeit im Frühjahr überschallen.
Es geht über die als Möwenort bekannte Schwemmsandebene am Südzipfel des Gnitz hinauf auf den 32 m hohen Weißen Berg. Man sieht der bewaldeten Steilküste am Peenestrom an, wie die Naturkräfte an ihr zehren. Wild und unberührt ist die Landschaft. Von hier genieße ich die wunderbare Aussicht auf das Achterwasser bis hin zum Lieper Winkel, auf die Krumminer Wiek und über den Peenestrom bis zum Festland hinüber. Fisch- und Seeadler fühlen sich hier zu Hause und auch Usedoms größte Uferschwalbenkolonie brüten an den Steilufern. Stufen führen vom Campingplatz hinunter ans Wasser. Durch den Wald und über Wiesen geht es zurück nach Lütow.
Eine Zeesenbootfahrt im Krumminer Wiek
Noch einmal führt mich mein Weg ans Krumminer Wiek. Über einer von knorrigen hundertjährigen Linden gesäumten Allee erreiche ich auf einem Plattenweg das Fischerdorf Krummin. Vom Naturhafen steche ich mit dem einzigen Zeesenboot auf Usedom ins Wasser des Peenestroms. Vor 200 Jahren wurden diese für die Fischerei genutzt, heute dienen sie als Ausflugsboote. Rike hat ihr Boot vom Vater geerbt. Pünktlich zum Start der Tour tropft es vom Himmel und mit dem Regen kommt auch der Wind. Dieser legt sich ins rotbraune Segel und treibt das traditionelle Holzboot hinaus. Früher warfen dann die Fischer ihre flachen Netze (Zeese) auf den Grund. Heute liegen die Netze als Reusen im Wasser und sind beim Segeln eher ein Hindernis.
Zurück am Land schaue ich mich noch zwischen den reetgedeckten Häusern um die St.-Michael-Kirche um und entdecke einen Garten mit bunt gewürfelten Sitzgelegenheiten. Kaffee und Kuchen locken auch mich in das Gartencafé Naschkatze. Peter Jezek, der Besitzer dieses Idylls, gesellt sich zu mir und berichtet über die Anfänge dieses Cafés, die aus der Not geboren waren, für seine Frau einer Arbeit zu schaffen und gleichzeitig ihre Leidenschaft, das Backen, mit einzubeziehen. Dass die Geschichte so gut ausgeht, scheint Jezek selbst nach 15 Jahren immer noch kaum zu glauben. Die „Naschkatze“ gibt es übrigens wirklich, einst kam sie als Findelkatze vom ausgehöhlten Baum vor der Kirche immer herüber und fraß sich durch. Irgendwann blieb sie einfach und machte den Garten zu ihrem Zuhause. Ein Platz im Garten ist sogar nur für die Katze reserviert. Allerdings sieht man sie nur noch selten auf dem Stuhl. Wahscheinlich hat sie längst einen ruhigeren Platze gefunden irgendwo im Garten von Herrn Jezek.
Auf den Spuren der Vergangenheit in Peenemünde
Dunkle Wolken liegen über dem Hafen von Peenemünde. Der Wind pfeift über das Wasser, auf dem knarzende Kähne im Rhythmus der Wellen schippern. Der Fahnenmast quietscht. Es ist Sonntag kurz vor Sonnenuntergang, als ich zwischen den alten Industrieanlagen entlanglaufe. Keine Menschenseele, die sich jetzt noch hierher verirrt, obwohl das alte Elektrizitätswerk das Historisch-Technische Museum Peenemünde beherbergt. Doch längst hat auch das Feierabend und der Tatort ruft. Auf der gegenüberliegenden Seite liegt ein Schiff, auf dessen Banner in großen Lettern Hafenbar „Zum dünnen Hering“ geschrieben ist. Da will ich hin. Auf dem Weg einmal ums Becken steht ein alter Mann und wirft saftige Fleischstücke auf seinen Grill. Irgendwo dahinten sehe ich Camper. Ich komme mir mit meiner Kamera etwas deplatziert vor. Und kann nicht umhin zu denken, am perfekten Setting des Polizeirufs Rostocks gelandet zu sein – nur eben 120 km östlicher.
Peenemünde wirkt ein wenig mystisch, gar unheimlich an diesem trüben Frühlingstag. Was sich im Kopf zusammensetzt, sind wohl unvermeidlich Gedankenschnipsel aus der Vergangenheit. Sperrgebiet oder Munitionsbelastete Area sind Hinweise, die auf dem Weg von Karlshagen schon ins Auge fallen.
Von 1936 bis 1945 befand sich in Peenemünde das größte militärische Forschungszentrum Europas. Auf einer Fläche von 25 km² arbeiteten in den Versuchsanstalten Peenemünde bis zu 12.000 Menschen gleichzeitig an neuartigen Waffensystemen, es galt als modernstes Technologiezentrum der Welt. Der weltweit erste Marschflugkörper und die erste funktionierende Großrakete wurden hier größtenteils von Zwangsarbeitern gefertigt und gelangten ab 1944 als „Vergeltungswaffen“ zum Einsatz im Zweiten Weltkrieg.
Doch heute überdeckt die Natur immer mehr ein Stück dieser militärischen Vergangenheit. Biber haben Gebiete erobert, bis zu 4 m tiefe Moorlöcher verschlucken das, was nicht hier her gehört, unter der Wasseroberfläche liegen englische Bomber.
Auf einer geführten Tour des Museumsvereins Peenemünde e. V. lerne ich das Gelände kennen, in dem die Fabrikanlagen einst standen. Wir treffen uns am Flugplatz, der einst Bestandteil der Erprobungsstelle der Luftwaffe war und mit seinem großen Rollfeld während des Zweiten Weltkrieges zu den größten Flugplätzen Deutschlands zählte. Wir passieren den Müggenhof, wo der Verein seinen Sitz hat, erreichen dann das einstige Barackenlager des Heers. Dann setzen wir die Tour hinter einem Tor fort. 800 Tonnen Munition sollen noch irgendwo hier lagern, nicht umsonst ist das Gebiet für den normalen Spaziergänger gesperrt. Ab 1943 wurde das Gelände bombardiert und nach Kriegsende nach und nach abgerissen. Kaum findet man noch Reste, die auf das riesige Forschungszentrum hinweisen, wo heute Bäume gen Himmel wachsen. 8000 Arbeiter und Arbeiterinnen strömten jeden Morgen von der nahen Bahnstation herbei. Alte Bilder und Videos sind der Motor für unsere Imagination während im friedlichen Wald die Vögel zwitschern. Ein Stein mit einer aufgezeichneten Rakete liegt vor mir im Wald. Von hier gelang im Oktober 1942 der weltweit erste Start einer Rakete ins All. So fortschrittlich und revolutionär doch alles klingt, diente die Forschung von Anfang an nur einem Zweck: Es wurde Hochtechnologie für militärische Überlegenheit geschaffen.
Wir fahren durch den Wald und vertreten uns hin und wieder die Füße. Unter dem Waldboden liegt Geschichte. Manch ein Baum ist Zeuge dieser Zeit. An einem Schilfgürtel steigen wir wieder aus dem Auto. Vor uns liegt friedlich ein großer geschützter Wasservogelrastplatz. Die Nordspitze Usedoms ist auch Heimat einer Kormorankolonie. Der Blick schweift über das Wasser, wo der Peenestrom in die Ostsee fließt. Haken, Struck und Ruden lauten die Namen der Inseln, die seit 1925 zum Naturschutzgebiet zählen. Während Worte wie Abschussrampe, Prüfstand und Raketen den Raum ergreifen, entfernen sich Kopf und Herz von der Geschichte und tauchen ein in die fantastische Natur.
Surfen und Paddeln in Karlshagen
Am Ende zieht es mich doch noch ans Meer. Meine Unterkunft befindet sich in Karlshagen. Trotz der kalten Nächte schlafe ich mit offenem Fenster. Ich schlafe ein mit dem Rauschen des Waldes hinter meinem Haus und wache auf mit dem Rauschen des Meeres. Die Melodie der Küste, die sich in meine Ohren legt, ist wohltuend. An einem dieser Morgen sitze ich mit Philipp von der Surfschule Schöne Freizeit beisammen. Der kalte Sand rinnt durch die Zehen, mein Körper sinkt in den Liegestuhl zusammen. „6-9 Grad schätze ich“, höre ich ihn sagen, als ich nach der Wassertemperatur frage. Da soll ich jetzt rein? Nein, nicht rein, sondern aufs Wasser. Für alle Wassersportarten kann er etwas anbieten: Bei Ostwind geht es aufs Brett zum Kiten, bei Westwind ist Windsurfen angesagt und ja, man kann hier sogar Wellenreiten, das weiß nur kaum jemand. Heute kommt der Wind aus Nordwest und ist zum Glück nicht ganz so frisch.
Meine Füße kämpfen sich einen kurzen Moment durch das eiskalte Wasser der Ostsee. Noch bevor sie die Chance haben, blau zu werden und abzufrieren, springe ich auf das Board und steche das Paddel ins Wasser. Unter mir spüre ich die Wellen, an meinem Körper reisst hingegen der Wind. Die Kräfte scheinen gegeneinander zu wirken und mich mit aller Gewalt vom Brett reißen zu wollen. Noch halte ich mich, doch das Brett dreht sich um meine Achse. Wie ein Stück Treibholz muss ich wohl für die Spaziergänger am Strand aus der Ferne aussehen, die im Sand nach Bernstein suchen. Über 30 Jahre nachdem ich auf Usedom Sandburgen baute und mich mit unbeholfenen Schwimmzügen durch das Wasser bewegte, tanze ich heute auf den Wellen und finde mich in das Bekannte hinein. Wind und Salz streichen über meine Haare und den Neopren. Über mir kreischen die Möwen und tanzen mit mir in der Luft.
Was man sonst noch wissen sollte?
- Die Insel Usedom erreicht man von Berlin aus in 2,5 Stunden mit Auto, in 3,5 Stunden mit dem Bus oder in ca. 4 Stunden mit Bahn
- Ich habe mir bei meinem einwöchigen Aufenthalt ein Ferienhaus von Usedom Tourist in Karlshagen mit anderen Bloggern geteilt
- Eintägige Insel Safari im Land Rover Defender
- Ausflug mit dem einzigen Zeesenboot auf Usedom vom Naturhafen in Krummin
- Surfschule Schöne Freizeit – vom Windsurfen über Kitesurfen bis zum Wellenreiten und SUP
- Historische Rundfahrt um die Heeresversuchsanstalt Peenemünde
Kulinarisch
- Mellenthin: Wasserschloss Mellenthin | Alte Schmiede | Hofladen Mellenthin
- Stolpe: Restaurant Remise am Schloss Stolpe (mit Pommern Tapas)
- Benz: Kaffeegarten Alte Feuerwehr
- Neppermin: Hofcafé Tante Wally
- Lieper Winkel:
Krienke: Ramonas Hofladen
Grüssow: Hofcafé Landlust
Warthe: Zum Alten Kahn
Rankwitz: Hafen Rankwitz - Krummin: Gartencafé „Zur Naschkatze“
- Peenemünde: Hafenbar „Zum dünnen Hering“
- Heringsdorf: Marc O’Polo Strandcasino
Ich wurde vom Usedom Tourismus zu dieser unbezahlten Recherchereise eingeladen. Die genannten Orte erkundete ich größtenteils individuell. Alle Ansichten sind meine eigenen.
Sind das schöne Bilder! So viel Blau!
Dankeschön! Usedom ist aber auch eine wunderbare Insel – und hat neben viel Blau auch viele Grüntöne. LG, Madlen