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Der Tag, an dem der Westen seinen Duft verlor

Mein Kompass hatte nur drei Richtungen. Und dennoch schien er intakt. Dort wo die Sonne am höchsten stand, ging es für mich nicht weiter. Hinter der Linie am Horizont kam nichts. Doch der Blick in den Himmel reichte. Gen Süden fuhr man einfach nicht. Was uns davon abhielt, kannte ich nur vom Hörensagen. Ein Grenzzaun, der so fest in meinem Leben stand, nur 15 km von unserem Haus, blieb bis zu jenem Tag für mich unsichtbar, an dem er kein Hindernis mehr war.

Hin und wieder schritt meine Patin mit Jeansjacken, Netzstrümpfen und Milkaschokolade in mein Leben und färbte meine Welt bunt. Jeder Gegenstand duftete, dass ich mir in meiner Vorstellung hinter der Mauer ein parfümiertes Land vorstellte. Doch ansonsten mangelte es mir an nichts, außer an den unbegrenzten Möglichkeiten.

Mein Heimatdorf im Thüringer Wald

Mein Heimatdorf im Thüringer Wald

Aber mit meinen fast 13 Jahren hatte ich noch längst nicht die Gesamtpalette an Möglichkeiten ausgeschöpft. Das Universum vergrößert sich, je älter man wird. Die Wege werden länger, die Zeit rast schneller, der Wille nach Freiheit wächst. Was in der Kindheit noch die duftende Wiese befriedigt, will später nicht mehr wirken.

In meinen Urlauben an der Ostsee, in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg bekam ich eine kleine Ahnung von dem, was mich bedrohte. Wenn Panzer über die Heiden und durch die Wälder rollten, Kampfflieger im Minutentakt über Neuruppin hinweg rauschten, bekam ich ein mulmiges Gefühl. Doch wieder zurück im Thüringer Wald, war meine Welt in Ordnung. Ich wuchs mit Sesamstraße, Colt Seavers und Denver Clan auf. Meine Adidas-Turnschuhe verpackte ich in Aldi-Tüten und schleppte diese in die Schule. Ich hatte einen Füller und einen Walkman aus dem duftenden Land hinter der Mauer. Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht etwas aus dem anderen Teil Deutschlands an meinem Körper trug. Niemand, der sagte, dies verstoße gegen die Ordnung. Kein bedrohendes Gefühl in meiner Kindheitswelt.

Auf Werra-Radtour – auch nach der Wende gibt es hier noch die Vita Cola

Auf Werra-Radtour – auch nach der Wende gibt es hier noch die Vita Cola

Nur das schmale Angebot im örtlichen Konsum weckte Begehrlichkeiten und erzeugte Frust. Mit großen Augen schaute ich mir Westkataloge an. Nach meinem Schwimmtraining in der nahegelegenen Kreisstadt suchten wir den Intershop auf, nur um einmal den Westen zu schnuppern. Wir kauften fast nie etwas, zu kostbar waren die in Forum-Schecks eingetauschten Westmark. Ein Monchichi, ein Nesquik – für mehr war meine Patin aus Hannover da. Ein Höhepunkt waren jedes Jahr zu Weihnachten ihre Pakete. Diese ersetzen den Gang in den Intershop. Denn allein der Duft wirkte berauschend. Orangen (manchmal schon angeschimmelt), Schokoladen, Spielzeug – man war so einfach zu befriedigen.

Mein Vater arbeitete zeitweise in Berlin. Wenn er von seiner Arbeit an den Wochenenden nach Hause kam, packte er das aus, was es in unseren Konsums und Kaufhallen in der Provinz nicht gab – Milchtüten in verschiedenen Geschmacksrichtungen und Joghurts. Ost-Berlin war mein „kleiner Westen“. Zumindest reichte er aus meinen Kinderaugen als Schablone für die schöne, bunte Welt. Nur der Geruch war derselbe.

Berliner Mauer

Berliner Mauer

Und dann kehre ich an einem Novemberabend 89 von einem „Kindergeburtstag“ nach Hause. Meine Eltern schauen wie immer die abendlichen Nachrichten, als ich in das Wohnzimmer trete. Ich verstehe nicht ganz und irgendwie doch. Plötzlich bekommt mein Kompass einen Süden. Meine Scheibe wird wieder rund, hinter dem Horizont geht es weiter. Das Nichts hinter der Linie verschwand.

Am nächsten Tag fehlen die ersten Klassenkameraden. Es sind die mit Westverwandtschaft. An den Folgetagen dezimiert sich das Klassenzimmer bis auf ein Drittel. Meine Eltern wollen warten, obwohl wir nur 15 km von der Grenze entfernt wohnen. Vielleicht haben sie Angst, dass die Grenze wieder geschlossen wird. Vielleicht möchten sie nicht als Bittsteller für das Begrüßungsgeld anstehen. Vielleicht sind sie auch nie die ersten gewesen. Vielleicht haben sie sich einfach angepasst an ein Leben, in dem man besser nicht auffällt.

Aus unserem Fenster schaue ich über den Fluss hinüber zur Straße, auf der sonst nur vereinzelt Trabis und Busse fuhren. Plötzlich bilden sich Schlangen. Eine Woche nach der Grenzöffnung passieren wir die Grenze zwischen Eisfeld und Coburg. Zum ersten Mal sehe ich den Grenzzaun. Dort wo die meisten Bürger stoppen, fahren wir weiter. Meine Eltern träumten immer von Bayern, von Franken. An jenem Tag fahren wir nach Nürnberg. Als wir durch die Straßen der Altstadt laufen, bin ich überrascht, wie sehr sich der Dialekt meiner Eltern mit dem der Passanten ähnelt. Wir haben so viele Gemeinsamkeiten und sind doch so verschieden.

Beschämt halten wir das Begrüßungsgeld in den Händen. Ich kaufe mir einen Kassettenrekorder und eine rote Haarfarbe. In den Nachwendejahren wuchs nach all dem Grau der Wunsch nach Farbe, auch auf den Köpfen. Wir gehen zum ersten Mal in unserem Leben durch einen Westsupermarkt, und es reicht, einfach nur zu schauen. Keine abgezählten Bananen, nicht mehr nur einmal im Jahr eine Palette Schokoküsse und endlich Säfte satt. Da hebt mein Vater eine Kiwi in die Luft und ist begeistert von der neuen Kartoffelsorte.

Blick über den Thüringer Wald

Blick über den Thüringer Wald

Städte wie Erfurt mauserten sich nach der Wende

Städte wie Erfurt mauserten sich nach der Wende

Ein Stück Heimat hinter der Grenze – Nahetal

Ein Stück Heimat hinter der Grenze – Nahetal

Wie sehr haben mich diese knapp 13 Jahre „hinter“ der Mauer geprägt? Manchmal frage ich mich, ob ich mit einem anderen Geburtsort im Ausweis ein anderer Mensch geworden wäre. Genau dann sage ich mir, ich hatte Glück, die Wende kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Was zuvor war, sind 13 Jahre unbeschwerte Kindheit. Die Wiese in Bayern wäre sicherlich nicht grüner gewesen als die hinter unserem Haus. Ich hatte das Glück, nicht aufgrund meines Geschlechts im sonst so vordergründig gleichberechtigten Land vom Abitur ausgegrenzt zu werden, weil Jungs aus der Sicht des Staates für die Armeelaufbahn besser geeignet waren, trotz bedeutend schlechterer Schulnoten. Ich hatte das Glück, nach meinem Abitur ein Jahr in den USA zu verbringen, in denen ich lernte, dass das Land der unbegrenzten Möglichkeiten doch auch seine Grenzen hat. Ich hatte das Glück, studieren zu können, was auch immer ich wollte. Und ich hatte das Glück, während meines Studiums die Luft der weiten Welt zu schnuppern und den Duft der Freiheit.

Und manchmal frage ich mich, warum ich den Westen heute nicht mehr rieche. Dann sagt mir mein Freund, der im  Westen aufwuchs, dass er den Duft des Ostens auch nicht mehr riecht – den nach Mitropa, Ata, Fit und Spee.

25 Jahre Mauerfall

Ich danke Inka für die schöne Idee zur Blogparade „Und wo warst Du am 9. November 1989?

Fast aufregender als dieser Tag, waren die darauf folgenden Monate und Jahre. Als im Sommer 1990 die Währungsunion kam, erkannte man sein altes Land nicht wieder. Mobiliar und Auto wurden in Windeseile ausgetauscht. Man shoppte in Bayern, man suchte sich einen Job in Bayern, man kopierte Bayern – zumindest in meiner Heimat.
Im Gegenzug nutzten Versicherungsvertreter, Teppichhändler & Co. die Verunsicherung aus. Ein bisschen „Wilder Osten“ – doch das ist eine andere Geschichte…

Die westdeutsche Sicht auf diese spannende Zeit erfahrt Ihr von der zweiten puriystischen Hälfte, die in West-Berlin aufwuchs:

 

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