Der König ist da, schnallt Euch an! Das von Thommy angekündigte Polizeiaufgebot war dann doch nicht sichtbar und der König auch nicht, dafür viele Jakobspilger*innen. Wer nach Santiago de Compostela kommt, tut dies zu Fuß, mag man fast schon glauben. Denn jedes Jahr machen sich unzählige Menschen aus den unterschiedlichsten Motiven auf in Richtung Santiago de Compostela, um dem Wegweiser mit der gelben Jakobsmuschel zu folgen. Mindestens 100 km zu Fuß oder mit dem Pferd oder 200 km mit dem Fahrrad muss man zurückgelegt haben, um in der Rúa Carretas 33 bei der Internationalen Aufnahmeeinrichtung für Pilger*innen die Compostela zu erhalten. Hier bilden sich schon am frühen Morgen Schlangen. Wem ist schon bewusst, dass das Jahrhunderte alte und teilweise bereits vergessene europaweite Wegenetz des Jakobsweges erst durch den Aufruf des Europäischen Rats 1987, die Jakobswege neu zu beleben, verstärkt in das Blickfeld von Regierungen und Initiativen geriet. Seither ist es ein gutes Business. Waren es in den 70er Jahren noch weniger als 100 Pilger*innen, so strömten 2018 300.000 Pilger*innen nach Santiago. Im aktuellen Corona geprägten Jahr haben bis September bereits 100.000 Pilger*innen Santiago erreicht.
Ich bin ganz einfach mit einer Lufthansamaschine nach Santiago gekommen und habe nicht vor, auf dem Jakobsweg zu wandern – und doch begleitet mich der bekannte Pilgerweg Camino Português auf meiner Reise, die mich von hier der spanischen Atlantikküste entlang und durch den grünen Norden Portugals in das 235 km entfernte Porto führt.
Santiago de Compostela im Jakobsjahr
Wir befinden uns im heiligen Jakobsjahr. Dieses „Xacobeo“ findet laut Papstprivileg immer dann statt, wenn der Jakobustag am 25. Juli auf einen Sonntag fällt und beginnt mit der Öffnung der Heiligen Pforte. Nach 11 Jahren ist es nun 2021 endlich wieder so weit und wird ausnahmsweise über zwei Jahre gefeiert – gerade nach der Corona-Krise zieht es viele wieder auf die Wanderwege mit dem Ziel das Grab von Jakobus, auf dem sich die bekannte romanische Kathedrale befindet. Die barocke Heilige Tür wird nur in heiligen Jahren geöffnet. Es ist bereits abends, als wir uns an einem Filmset vorbeischleichen, um auf den weitläufigen Praza de Obradoiro zu gelangen. „Psssss!“ tönt es durch die Straße, in der man sich durch die aufgestellten Requisiten in eine andere Zeit katapultiert sieht. Die Sonne tüncht die über 70 m hohen Türme der Kathedrale in ein warmes Licht, der Platz liegt bereits im Schatten. Ein paar Pilger*innen und Tourist*innen warten hier mit ihren Kameras auf das perfekte Licht. Ein Schimmer überzieht die Granitquader, die sich in die Seitenstraßen der Altstadt ziehen, in denen überall Student*innen sitzen.
Der robuste romanische Bau der Kathedrale wurde im 17./18. Jahrhundert barock umgestaltet. Detailreich ist nun vor allem die Westfassade, die wir von außen bewundern. Die Verzierungen verlieren sich etwas im Inneren zwischen den monumentalen Granitsäulen, zwischen denen der Mensch an Größe verliert. Die Kathedrale wurde in den letzten Jahren ausgiebig restauriert, nachdem Wasser eingedrungen war. Neu trifft hier auf alt. So zum Beispiel die gut durchdachte Beleuchtung, die schnell vergessen lässt, dass es bereits Mitternacht ist, als wir durch die leeren Gänge der Kathedrale streifen. Ein großes Räucherfass Botafumeiro – 1,5 m hoch und 50 kg schwer – aus versilbertem Messing hängt über unseren Köpfen. Es sei schon mal heruntergefallen, gibt Thommy zu, doch niemand kam zu Schaden. Das große Raumdeo wird ab und an tatsächlich noch zum Schwenken gebracht. Wir schlendern durch die leeren Gänge, keine Beichtstühle, die stören. Ein typischer Pilgergrundriss. Heutzutage nimmt man die Beichte in den kleinen Kapellen ab. Abschließend steigen wir hinab in die Krypta und finden hier Originalsteine aus dem 1.-3. Jahrhundert und stehen vor dem vermeintlichen Jakobusgrab.
Vieles in der Stadt wurde im 17./18. Jahrhundert erbaut. Innerhalb der Stadtmauern sind es allein 40 Klöster, Kirchen und Kapellen. Im Parque de Alameda finden wir mehrere Aussichtspunkte, von denen wir die Skyline der Stadt mit ihren schönen Ziegeldächern aus dem die Türme ragen, bewundern.
Modernes Santiago
Es gibt auch moderne Stadtteile wie die Cidade da Cultura – federführend geplant von Peter Eisenman. Die „unvollendete“ Kulturstadt aus Stahl, Granit und Glas thront majestätisch östlich der Stadt auf dem Gipfel des Monte Gaiás. Neben der Bibliothek und dem Museo de Galicia bietet die Cidade da Cultura ein vielseitiges Kulturprogramm an. Doch an diesem Tag fühlt man hier auch viel Leere. Das überdimensionierte Großprojekt war einst viel größer geplant, sprengte schließlich den Kostenrahmen und spaltete auch die Meinungen. Nicht bei allen war der Komplex beliebt. Viermal änderte sich das Projekt. Aus dem erst als Oper geplanten Gebäude entstand ein Theater, berichtet der Architekt Antonio Maronio, der uns stolz durch die Gebäude führt. Zwei Türme von John Hejduk, die den Sakralbauten nachempfunden sind, stechen aus dem Ensemble heraus. Türme ohne Körper – sagt Maronio. Doch nicht nur die Innenräume wissen zu faszinieren, sondern auch der Ausblick, tritt man einmal auf den Vorplatz. Zu unseren Füßen erstrahlt eine der schönsten Städte und das drittbedeutendste Wallfahrtziel der Christenheit hinter Jerusalem und Rom – wie Thommy mehrfach betont. Aber auch die satte grüne Farbe der hügeligen Landschaft fällt ins Auge. Die wärmenden Sonnenstrahlen an diesem frühherbstlichen Tag vermögen dies allein nicht zu zaubern. Es bedarf hierfür einer beständigen Feuchtigkeit, „Champagner“ – wie Thommy mit einem breiten Grinsen erzählt. Und so gerät er gleich ins Schwärmen über die kälteren Jahreszeiten, wenn der feine Sprühregen Santiago seinen Schimmer verleiht. Überall ein Funkeln auf dem Granit.
Grünes Galicien mit seinen Kamelien
Blumen schmücken die Gegend das ganze Jahr über bei milden 12 Grad im Winter und 24 Grad im Sommer. Die Gegend ist bekannt für seine herrlichen Kamelien, die im 18. Jahrhundert aus Ostasien eingeführt wurden. Über 3000 Arten sollen hier gedeihen – mehr gibt’s nur noch in China. Die Blüte erleben wir leider nicht, dafür muss man von Dezember bis Mai die Region besuchen. Und das scheint sich zu lohnen, denn Galicien hat eigens eine Ruta da Camelia gekennzeichnet, die von Garten zu Garten führt.
Man muss nicht weit fahren, um sich in einer grünen Oase zu wähnen. Ein kleiner Wasserfall plätschert durch den wildgewachsenen Garten des Pazo de santa Cruz de Ribadulla, eines der vielen Herrenhäuser in der Umgebung, in denen man für eine kleine Eintrittsgebühr spazieren und verweilen kann. In der Grünanlage des nahen Pazo de Oca Herrenhaus aus 17. Jahrhundert ziehen schwarze Schwäne ihre Kreise auf dem kleinen Teich. Wieder säumen Kamelien die Wege.
Es blüht und grünt, wo immer man hinschaut. Riesige Waldflächen – vornehmlich von Kiefern und Eukalyptus – überziehen Galicien und machen damit ungefähr 30 Prozent des gesamten Waldbestandes Spaniens aus.
Mehr als die Hälfte der Berge ragen bis über 400 Meter hinaus. Die Bergketten und das Meer prägen die Region und schotten damit Galicien vom restlichen Spanien ab. Und nicht umsonst gilt die autonome Region auch als „Land der 1000 Flüsse“, die Berge mit Meer verbinden. Die Lage am Atlantik findet sich auch auf der Speisekarte wieder. Zwei- bis dreimal pro Woche essen Galicier*innen Fisch, Meeresfrüchte und Algen.
Wo sich Genuss auf dem Teller wiederfindet
Wir besuchen mit der 39jährigen Köchin und Inhaberin eines Michelin-Sterns, Lucia Freitas, den Fischmarkt Abastos, in dessen Nähe sie ihre zwei Restaurants Lume und A Tafona do peregrino führt. Wie jeden Morgen kauft die zweifache Restaurantbesitzerin hier die Lebensmittel ganz frisch für den Tag ein. Einen Kühlschrank gibt es in ihren Restaurants nicht, weiss Thommy zu scherzen. Kleine Läden mit Handwerkskunst und Restaurants rahmen den Markt ein. Ein Platz fürs Sehen und Gesehen werden – besonders abends. Lucia hält am Stand von Marix Carmen einen Seewolf und Herzmuscheln prüfend in die Höhe. Bei Bartolo Pescados & Mariscos kauft sie Thunfisch und Langusten und bei Mariscos Virucha ihre Miesmuscheln. Treue ist ihr wichtig. Am liebsten kauft Lucia bei den Marktfrauen aus der Umgebung, den Paisanas, bedient sich aber auch gern aus ihrem eigenen Garten.
Später werden wir in den Genuss ihrer ausgezeichneten Sterneküche im A Tafona do peregrino (9 Gänge für 85 EUR, 14 Gänge für 115 EUR) kommen, nachdem wir im Lume leckere Tapas probieren. Treue und Dankbarkeit richtet sie auch an die Einheimischen, von denen sich nicht jede*r teure Küche leisten kann. Daher läuft ihr hip eingerichtetes Lume auch unter dem Motto „Slow Food, aber so schnell wie möglich essen.“ mit moderateren Preisen.
Von Muscheln und Fjorden
Nebel zieht sich über die Landschaft, als wir am nächsten Tag gen Süden fahren. Wie hinter einer Milchglasscheibe zeichnen sich dezent die Silhouetten der Berge ab – umhüllt vom sanften Weiß. Regen peitscht auf die Autoscheibe, als wir uns auf dem Weg nach Portugal machen. Auf der stürmischen See schippert ein kleines Fischerboot mit Vogelschwarm im Schlepptau zurück zum Hafen. Das Meer verschwimmt mit dem Grau. Fjorde schneiden sich bis 20 km tief ins Landesinnere hinein und verlängern schwungreich die Küstenlinie des Festlands. Mit 3000 km hat das kleine Galicien den längsten Küstenabschnitt Spaniens. Die von Flüssen geschaffenen Buchten sind als Rías bekannt und erstrecken sich vom Kap Finisterre bis hinunter an die portugiesische Grenze.
Auf unserem Weg durch den Südwesten bis nach Vigo liegen die v-förmigen „Rías Baixas“, die man auch als „Costa do Marisco“ – Meeresfrüchteküste – kennt, da hier Muschelzucht betrieben wird. Für die im Norden gelegenen u-förmigen Fjorde „Rías Altas“ bleibt keine Zeit. So kann Thommy nur von den schroffen und steilen Klippen schwärmen, die aus dem kalten Atlantik herausragen, in dem sich Hummer und Langusten wohlfühlen.
Das Salz in der Luft vermengt sich mit den Düften der guten Küche. Der Schimmer von Granit überzieht auch das Antlitz der alten Städtchen zwischen Santiago de Compostela und Vigo nahe der portugiesischen Grenze. Muscheln zieren hier wie anderswo Schiefer sogar Hausfassaden.
In Carril sieht man noch die Muschlerinnen, die in Cofradias (Genossenschaften) organisiert sind. Stäbe ragen aus dem Wasser und stecken die Parzellen ab. Miesmuschel, Herzmuschel und Co. werden kultiviert, nicht gezüchtet. 300 von den 500 Plattformen mit Miesmuscheln liegen allein an der Ilha de Arousa. Fast alle befinden sich im Privatbesitz.
Die Rías bieten aber mit ihren schmalen und verschlungenen Flüssen und deren unbebauten Ufern auch die ideale Infrastruktur für Schmuggel. Galicien galt in den 80er und 90er Jahren als Europas Haupteingangstor für Kokain und so findet man in Vilanova de Arousa und Umgebung Villen von den einstigen Drogenbossen. Eine davon ist der Pazo Baión, der heute als Bottega fungiert. In die 500 Jahre alten Granitgebäuden hat sich seit 2008 Adega Condes de Albarei eingemietet und betreibt auf dem Gelände ein Weingut. Ein mildes Klima lässt hier Wein gedeihen. Fast alle Weine, die in Rias Baixas gekeltert werden, sind fruchtige Weißweine aus der Sorte Albariño. Die Weinlese ist in diesen Tagen in den letzten Zügen.
Rauer Atlantik und weite Strände
Bevor wir Galicien Richtung Portugal verlassen, stoppen wir noch einmal am Meer. Hinter der Düne öffnet sich am Praia da Lanzada der Blick über einen menschenleeren 2-3 km langen Strandstreifen. Der Wind peitscht mir die salzgetränkten Regentropfen ins Gesicht. So unwirtlich Wetter und Szenerie, so erfrischend ist genau dieser Moment hier am Atlantik. Der feinperlige Champagner Galiciens trifft auf die raue See, in der ein Surfbrett schippert.
Der Glanz auf all dem feuchten Granit der Städte ermattet im grauen Dunst, der aus dem Meer emporsteigt. Morgen scheint in Galicien wieder die Sonne und bringt die üppige Farbwelt hervor. Doch heute zeichnet der Regen die galicische Landschaft in ein Aquarell, ein melancholisches Abschiedsbild.
>>> Teil 2 zu Nordportugal <<<
Ich wurde von Gebeco zu dieser Recherche-Reise in Galicien und Nordportugal eingeladen. Die Reise wurde von Lufthansa und Turismo de Galicia unterstützt. Alle Ansichten sind meine eigenen.