Ich weiß nicht, wann der kleine schummrige Laden, der vorgab, mal ein Plattenladen gewesen zu sein, sich in einen Puff verwandelte. Längst gingen in der Mittagspause und zum Kaffeetrinken Arbeiter im Blaumann und Geschäftsmänner im Anzug aus und ein, als plötzlich irgendwann das kleine blaue Schild mit den rosaroten Lettern AMORE vor der Tür leuchtete. Wie oft machte ich mit mir oder meinen Kolleginnen zum Spaß eine Wette, welcher parkende Mann oder Passant gleich hinter der Gittertür verschwindet. Meine Gedanken schweiften aber nicht nur wegen Amore von meiner eigentlichen Arbeit ab. Als gegenüber in einem verwaisten Laden ein Shisha-Shop einzog, kam auch Leben in unsere kleine Straße, die nicht gerade durch Schönheit besticht. Von nun an hielten junge Kerle mit klapprigen Autos aber auch mit teuren Schlitten zweite Reihe. Wieder ließ ich mich dazu hinreißen, meine Gedanken von der Arbeit abzuwenden und auf der Straße zu verlieren. Milieu-Studien par excellence ergaben sich hier. Breitbeinig wird noch mal alles zurechtgerückt, bevor Mann manchmal mit posierender Perle an der Seite den Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite betritt. Manchmal öffnete ich mein Fenster, nur um einen Hauch Erdbeerrauch zu erhaschen, ein anderes Mal machte ich alles dicht, wenn wieder ein Mackertyp seine Anlage auf Lautstärke drehte, aus der dann zu meiner Verwunderung schmusiger Soul tönte. Harter Kerl geht meines Erachtens anders. Vielleicht so – als einst die harten Kerle eines bekannten Motorrad- und Rockerclubs vorfuhren und im Laden verschwanden.
Am Tag, als ich nach Südafrika flog, hatte ich mich noch einmal auf meinen Bürostuhl gesetzt, als direkt vor meinem Fenster Leute schrien und einen Mann zu Boden warfen. Ich wollte gerade all meinen Mut und meine Zivilcourage zusammennehmen und dazwischen gehen, da sah ich, dass der Mann am Boden schon Handschellen und ein Tuch vor den Augen trug. Aus dem vermeintlichen Opfer wurde somit wohl ein Täter. Und die Täter waren wohl Zivilpolizei oder was auch immer. Sie kommunizierten untereinander über Walkie Talkie. Der Ton war rau. So rau wie meine Straße.
Als ich einmal einparkte, fragte mich ein verstörter Typ aus dem Nachbarhaus, ob ich eine Zigarette hätte. Ich rauche nicht. Er begann mich zu beleidigen. Ich versuchte ihn zu ignorieren. Plötzlich sprang er aus dem Fenster (im 1. Stock) und rannte mir hinterher. Ich schaffte es gerade so, ihm meine Haustür vor der Nase zu schließen. Tagelang befürchtete ich, dass er mir die Autoreifen aufstechen würde. Später bekam genau dieser Herr unsere Couch geschenkt, durch Zufall. Als wir ihm die Geschichte erzählten, musste er schmunzeln. Er wusste von nichts mehr, aber war nun unser best friend.
Dann war da einst noch Manni, unser Büro-Nachbar und Schlossbesitzer – hinter der Fassade seines alten Antiquitätenladens ging es abends auf Matratzen zur Sache. Doch aus altem Mobiliar, Schrei- und Stampforgien und Tantra ließ sich nicht genug machen. Längst sind hier Architekten eingezogen und mit ihnen ein Stück weit Normalität.
Normalität, die sich Tag für Tag immer mehr in den kleinen Ausschnitt des Alltags eingeschlichen hat, der sich mir von 9 bis 18 Uhr durch das Bürofenster bot. Acht Jahre sind es her, als ich zum ersten Mal durch diese Scheiben blickte. Inzwischen sind Kinder groß geworden, die ich einst an der Hand ihrer Mütter auf dem Weg zur Kita täglich an meinem Fenster vorbeihuschen sah. Ja, ich kann inzwischen jedem Kind eine Mutter, jedem Hund ein Herrchen zuordnen. Ist das nicht auf wunderbarer Weise schön und doch zugleich gruselig?
Dann war da der Mann mit dem Spitzbart, der jeden Mittag an unser Fenster klopfte und dies mir AAAAAh oder Prrrrrr ergänzte. Es gab noch den rotblonden Jüngling, der immer mit den ersten Sonnenstrahlen auf das Parkett unseres Kieztheaters trat. Er rannte irgendwelche Manifeste herunterbetend wild durch unsere Straße. Die bulgarischen Metallsammler wurden ebenso immer ab Frühling aktiv.
Andere wiederum scherten sich nicht um Jahreszeiten, das sind die Diebe und Einbrecher. Als Lars mit einem Messer in unserem Hof Salat ernten wollte, erwischte er zwei Kerle beim Raddiebstahl in flagranti und ließ die verschreckten Burschen laufen. Das war die harmlosere Nummer. Nach zahlreichen nicht geglückten Einbrüchen, schafften es Leute auch mal rein. Mal durch die Tür, mal bogen sie mit Fensterhebern die Gitterstäbe im Hinterhof hoch, um übers Bad einzubrechen, mal schoben sie die Jalousie morgens um 4 Uhr auf der Straßenseite hoch, um dann die Scheibe zu zerschlagen, um in unsere Räumlichkeiten zu gelangen. Als die Büroeinbrüche stoppten, folgten Autoeinbrüche (inzwischen verschwanden ganze Autos). Nicht genug, dass man sich mit dem ganzen Quatsch in der Werkstatt herumärgern muss, trat dann noch eine weitere Profession auf das Parkett unserer Straße – die Leute vom Ordnungsamt. Die hatten weniger Verständnis, dass man nach einem Einbruch nicht umgehend bei seinem Ersatzwagen den Anwohnerausweis hineinlegt – weil man ihn einfach in der Werkstatt vergessen hatte. Zum Dank gab’s gleich ein Knöllchen.
Später lernte ich, dass die Leute vom Ordnungsamt ein größeres Herz für die „ich bin auch gleich weg“-Masche der Shisha-Klienten hatten. Wie oft wurden hier Knöllchen zerrissen oder erst gar nicht ausgestellt. So ist sie, unsere Straße – dreckig, dunkel und 100 % ungerecht. Aber auch immer wieder lustig. Wo sonst sieht man morgens den Nachbarn mit einem Handtuch um die Lende vom Puff rüber in sein Haus laufen. Mr. Kuba ein Haus weiter beschallt hingegen im Sommer die ganze Straße mit Latin Grooves. (Immer noch sympathischer als zuvor in der Scharnweberstraße um die Ecke, in der der Hund unseres unteren Nachbarn auf Adolf hörte. Regelmäßig als Hippieschlampe beschimpft, wusste ich nicht, ob ich mich freuen sollte, als eines Nachts ein Brandanschlag auf unser Haus verübt wurde und die Feuerwehrmänner in voller Montur uns aus dem Schlaf klingelten. Ziel war damals der rechte Nachbar, der danach nicht mehr lang wohnen blieb – wir aber auch nicht.)
Es wird ruhiger dort, wo wir jetzt hinziehen. Aber vielleicht kann ich jetzt ungestört arbeiten und meine Beobachtungen auf den Feierabend verschieben. Denn wohnen bleibe ich noch in der wohl dunkelsten Straße Berlins.*
Nur fünf Monate später in meiner neuen Büroadresse mit L sitze ich dem Herrn der Mordkommission 4 gegenüber. „Wie soll ich es sagen, es ist eine seltsame Nachbarschaftsstruktur hier.“ Mir war das bisher gar nicht aufgefallen. Verglichen zu der Straße mit W zog hier bisher keine Einzelperson mein Interesse auf sich. In unserer Straße wird kräftig gebaut – Haus Lysanne, Haus Erika und wie sie alle heißen. Das ist wohl das, was man sich unter Gentrifizierung vorstellt. Eine Straße auf Durchzug – wird eine Straße des Einzugs. Seit Wochen versperren hier täglich Möbelwagen und Baufahrzeuge die Straße. Noch nicht mal mit Rad ist da manchmal ein Vorbeikommen. Und dann ist da seit Wochen der Müll vor meinem Bürofenster. Erst war es ein großer Kühlschrank, dann gesellte sich ein zweiter dazu, dann ein dritter, dann ein vierter. Broken Window setzt sich hier durch. Wo einmal die Vermüllung startet, wird sie so schnell kein Ende finden. Doch eines Tages waren es nur noch Drei, dafür gesellten sich kurz darauf blaue Müllsäcke zu den Kühlschränken. Und deshalb sitze ich nun schon zum vierten Mal im Verhör. Ich hatte als ordentliche Bürgerin das Ordnungsamt informiert. Es sei ja schließlich deren Pflicht, nicht nur in Bezug auf Falschparker tätig zu werden. Doch passierte nichts, bis es dann vor unserem Fenster bestialisch zu stinken begann. Die Sache nahm ihren Lauf. Laubfeger fanden die Ursache des Gestanks. Eine im Blattwerk abgelegte Babyleiche nur drei Meter von meinem Schreibtisch? Ich zähle auf, was ich in den Müllsäcken gesehen habe und komme mir dabei vor wie eine alte Dame mit Kissen auf dem Fensterbrett. „Ich bin normalerweise nicht so…“ versuche ich mich nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit zu rechtfertigen. „Aber der Müll störte mich schon wegen unserer Kunden…“. Und als ich meine Aussage unterschreibe, muss ich bei dem Satz schmunzeln: „Leute stellen etwas raus auf die Straße, andere Leute stellen etwas dazu, wieder andere nehmen etwas mit. Das ist hier so in Friedrichshain. Broken Window. Völlig normal.“ Doch ich weiß, der Blick durch das Fenster wird nicht mehr derselbe bleiben.
*PS: Unser ehemaliges Büro kann man jetzt mieten – über Airbnb!
#fhoodberlin
Eine phantastische Milieustudie – Morbidität und Fröhlichkeit liegen hier so nah beieinander.