Welcome to hell – begrüßt uns Snir lachend, als wir mit unseren Rädern mitten in Jerusalem stehen. Es ist der Anfang unserer nächtlichen zweistündigen Radtour durch die Stadt, die Juden, Muslimen und Christen gleichermaßen heilig ist. Ein wenig kommt die Hölle in diesem Zusammenhang doch befremdend daher. Und doch deutet Snirs verschmitztes Lächeln darauf hin, diese Metapher gründlich zu durchdenken. Im Tal der Hölle (Ge Hinnom) wurden früher zur Königszeit Kinderopfer gebracht, klärt Snir uns schnell auf.
Wir radeln weiter zum alten Bahnhofsgebäude, vor dem eine Bühne aufgebaut ist und getanzt wird. Es ist ein Platz, an dem man auch zum Shabbat ausgehen kann, ergänzt Snir. Wo Tel Aviv viel Haut zeigt und rund um die Uhr Party ist, zeigt sich Jerusalem sehr bedeckt. Und so verwundert der Blick aus dem Autofenster bei der Fahrt in die Innenstadt nicht, der bei der Nachmittagshitze Frauen in stoffreicher Bekleidung auf den Gehwegen freigibt. Dicke Nylonstrumpfhosen kleben an den Damenbeinen. Der dunkle Rock schwingt bis zur Wade während die Ärmel der Shirts bis zum Handgelenk reichen. Eine Perücke oder ein Tuch verstecken das Haar – und das nicht nur in jüdisch orthodoxen Wohngegenden.
Hinter dem alten Bahnhof erreichen wir den Aussichtspunkt Mishkenot Sha’ananim und dann den Bloomfield Garden mit seinem verzierten Löwenbrunnen, der als Treffpunkt für Familien aller Religionszugehörigkeiten gilt. Vielleicht benötigt es diese Umwege, bis wir in das Herz Jerusalems vordringen. Denn diese Stadt kann man nicht einfach so begreifen. Sie ist hochreligiös und das heilige Zentrum des Christentums, des Judentums und des Islams. Jerusalem ist der Ort der Leidensgeschichte, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi. Den Leidensweg Jesu können die Christen in der Via Dolorosa nachverfolgen. Im 10. Jahrhundert vor Christus wurde hier auch der erste jüdische Tempel unter König Salomo errichtet – dies macht Jerusalem für Juden so heilig. Und der Prophet Mohammed soll auf dem Tempelberg in den Himmel aufgefahren sein, um sich dort mit anderen Propheten zu treffen, so meinen die Muslime.
Es ist schön, dass ihr Jerusalem erst bei Nacht kennenlernt, bevor ihr sie im Menschengedränge entdeckt, meint Snir. Und tatsächlich verstehen wir, was er meint. Die Gassen sind leer. Das schummrige Licht der Straßenbeleuchtung legt einen besonderen Schimmer auf die riesigen, unebenen Pflastersteine. Kameras schauen auf uns herab. Jerusalem ist ein großes Puzzle, das aus jüdischen, muslimischen, christlichen, armenischen Vierteln besteht – Teile, die sich auf dichtem Terrain von der durch Sulaiman der Prächtige erbauten Stadtmauer eingerahmt zusammenfügen. Nur zusammen funktioniert es und ergibt ein schönes Bild. Doch dieses Bild ist zugleich sehr verletzlich. Kaum ein Mensch, der durch die nächtlichen Gassen zwischen den farbigen, metallenen Ladentüren streift. Wo welches Viertel endet oder beginnt lässt sich nur erahnen. Auf dem Platz vor der Hurva Synagoge wird es etwas wuseliger. Hier haben auch noch teilweise Restaurants und Schnellimbisse geöffnet. Jüdisch orthodoxe Männer in ihren schwarzen Mänteln, weißen Hemden und Hüten, aus denen die Schläfenlocken herausragen, eilen hurtig über den Platz.
Dann stellen wir unsere Räder ab und laufen noch einmal ein paar Stufen zu einer kleinen Aussichtsplattform hinab. Als würde sich ein Vorhang im Theater öffnen, werden auch wir plötzlich auf die Zuschauersitze verbannt. Vor uns ist die Klagemauer die große Bühne, auf der sich in absoluter Stille ein bewegendes Stück abspielt. Dieses lebt nicht von Protagonisten, sondern von den Statisten. Die bewegende Masse ist Sensation genug. Inmitten der schlafenden Altstadt stehen Männer und Frauen getrennt an einer Mauer und beten. Kleine Zettel mit Wünschen werden in die Ritzen geschoben. Der Glaube bestimmt die Stadt – 24/7, meint Snir, wird hier gebetet.
Ich kehre am nächsten Tag zurück. Dieses Mal trete ich an die Mauer heran. Auf kleinen Tischen liegen Gebetsbücher aus. Stühle sind an die Mauer gestellt, um den Blick hinüber auf die andere Hälfte, auf der die Männer beten, zu gewähren. Frauen haben Tränen in den Augen, beten ekstatisch oder sitzen einfach auf einem Stuhl. Dazwischen mischen sich die Touristen mit ihren Fotoapparaten. Es fühlt sich einfach falsch an, hier den Auslöser zu betätigen. Am Morgen im Israel Museum war Fotografieren im Schrein des Buches noch strikt verboten, was man hier hätte ablichten können, wäre das biblische Buch Jesaja gewesen. Das Pergament wird auf einem überdimensionalen Torarollengriff in einem architektonisch markanten Bau mit weißer Porzellankuppel präsentiert. Doch hier schauen wir in die Gesichter der Menschen, die voller Emotionen geladen sind, die sich im Gespräch mit Gott befinden und die wir irgendwie auch in einem sehr intimen Augenblick stören.
Nicht anders empfinde ich ein wenig später in der Grabeskirche. Unter einem Dach haben es sich auf zwei Etagen mehr als 30 Kirchen verschiedener Konfessionen eingerichtet – alle rundum Jesus’ Grab in der Grabrotunde. Orthodoxe Russen legen sich auf den Salbungsstein, auf dem Jesus Leichnam gesalbt wurde, nieder, rubbeln ihre Tücher und Jacken daran, um diese zu weihen. Immer wieder küssen sie den Stein. Überall um uns herum wird gebetet, Momente, in denen sich die Gläubigen völlig befreit zeigen.
In den Souks des muslimischen Viertel verliert sich der Glaube im Geschäft. Neben allen möglichen Devotionalien wird der übliche Touristenkram angeboten. Doch auch frische Säfte und leckere arabische Speisen kann man kosten. Gewürzaromen füllen die Luft mit ihrem Duft.
Als ich zum Zionstor zurückkehre, tönt von weitem schon die Schofar. Es wird getrommelt, musiziert und getanzt – ein 13jähriger Jüngling steht im Mittelpunkt der Feier, die man Bar Mizwa nennt. Mit dieser feierlichen Zeremonie, zu der die Jungen und Mädchen Gebetskleidung tragen und einen Abschnitt aus der Tora vorlesen, sind sie nach den religiösen Gesetzen des Judentums erwachsen. An dieser Stelle fallen mir die Worte von meinem Guide Yair ein, als er meint, bei einer jüdischen Hochzeit schwört man nicht die Treue zum Partner, sondern zu Jerusalem. In Erinnerung an die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem wird ein Glas zertreten, bevor die Feierlichkeit beginnt.
Erst wenn man die Altstadt durch eines der Tore verlässt, ist man wieder in einer ganz normalen Stadt. Autos winden sich durch die breiten Straßen, junge Leute sitzen in Cafés. Ich atme ein Stück frisches Jerusalem ein. Was hinter den Mauern ist, fordert permanent. Es ist der Sound einer Stadt, der mir meist nach einer Reise in Erinnerung bleibt. Doch Jerusalem ist eher leise. Selbst an der Klagemauer dominieren nicht die Töne, sondern die Bilder. Und immer wenn ich ein Bild von Jerusalem erfasst habe, glaube, die Stadt begriffen zu haben, wird dieses im nächsten Moment überschrieben. Jerusalem ist ein Dauerrauschen, das erst mit genug Abstand ein Bild ergibt. Und bei dieser Reise nach Jerusalem wird immer ein Stühlchen mehr dazu gestellt, anstatt eines zu nehmen. In Jerusalem ist man nämlich nicht allein.
Im Reisegepäck hatte ich das DUMONT Reise-Handbuch Israel, Palästina, Sinai, 3. aktualisierte Auflage 2015
Ich wurde von Israel Tourismus eingeladen. Alle Ansichten sind meine eigenen.