Irgendetwas war anders. Als ich heute Morgen meine tägliche Strecke zur Sprachschule in Sopocachi lief, waren die Straßen im Zentrum von La Paz leerer und doch auch zugleich voller. Voller mit Autos, leerer mit Menschen. Ich lief wie immer vom Hexenmarkt die Calle Murillo in Richtung Plaza Estudiante und wunderte mich über die seltsame Atmosphäre. In der Sprachschule angekommen erhielt ich die Nachricht meiner Lehrerin, dass sie sich verspäten würde, denn sie stecke im Stau. Später erzählte sie mir, der gesamte Prado sei gesperrt und daher quetschten sich alle Autos durch die kleinen Nebenstraßen. Aber weshalb war die Lebensader der Stadt gesperrt?
In den letzten Tagen hatte ich täglich Demonstrationen in der Stadt erlebt. Immer wurden irgendwo Schilder in die Luft gestreckt und lauthals protestiert. Überhaupt, gab es keinen Tag, an dem nichts los war und die Stimmung war ohnehin politischer aufgeladen, als ich es mit vorgestellt hatte. An meinem ersten Tag in La Paz geriet ich vor dem Regierungspalast in einen Auflauf an Journalisten. Hier musste etwas im Busch sein. Also drängte ich mich zwischen die Journalisten, die mich mit ihren Mikros auf die wichtige Person verwiesen. Da stand ein Mann im traditionellen farbigen Poncho mit Hut und Sandalen – der Herr Seibert Boliviens, Evos Pressesprecher. Auf einer Pressemitteilung, die ich erhaschte, stand der Grund des Auflaufs. Evo gab die Namen seiner neuen Minister bekannt. Dass die Folgetage noch interessant werden würden, ahnte ich nicht.
Auf meinem Rückweg von der Sprachschule erlebte ich selbst die gespenstische Leere des Prados, der sonst aus dem reinsten Fußgänger- und Autochaos bestand. Je mehr ich mich dem Plaza D Murillo näherte, desto deutlicher hörte ich Stimmen durch ein Mikrofon. Nur noch nach rechts abbiegen, den Hügel hinauf und dann würde ich mich inmitten des Geschehens befinden. Inzwischen gaben die Menschen die Richtung an. Ich trieb in der euphorisierten Menschenmasse mit und wurde Stück für Stück immer mehr selbst high. Plötzlich wurde mir der Weg versperrt. Ausweis bitte! Genau heute hatte ich diesen im Hostal gelassen. Ohne Ausweis kein Durchkommen. Ich könne ja zur nächsten Straßenecke laufen, meinte der freundliche aber bestimmende Polizist. Dort wurde ich jedoch gleich ohne Nachfrage nach meinem Ausweis abgewiesen. Ich solle weiter laufen, dahinten sei ohnehin mehr zu sehen. Doch was wollte ich hier eigentlich sehen? Wie sieht eine Amtseinführung eines Staatspräsidenten aus?
Ich hatte da so eine Vorstellung und die hieß, ich wollte die ganz Großen sehen. Staatschefs aus Ecuador, Paraguay und Chile waren geladen und auch der befreundete Hugo durfte nicht fehlen. Die Mächtigen Südamerikas waren heute alle in La Paz vereint, um Evo Morales bei seiner zweiten Amtseinführung die Ehre zu erweisen.
Nur die Parade zu sehen, die tatsächlich eine Straße weiter marschierte, war somit inakzeptabel, wenn man irgendwo dahinten Evo und seine Freunde sehen kann. Aber an der Militärparade gab es einfach kein Vorbeikommen, das zeigte mir die bis aufs Zahnfleisch bewaffnete Streitkraft an. Hier war nun Endstation!
Nur 200 Meter weiter ist der Ort des Geschehens und ich hing nun in der Parade fest. Ich fand mich damit ab und begann das bunte Treiben der Parade zu genießen. Plötzlich tat sich eine Lücke auf, die ich nutzte und über einen weiteren Umweg endlich zum Plaza gelangte.
Militär und Polizei ebenso Gewerkschaften wie die der Minenarbeiter von Potosi salutierten. Ich kämpfte mich immer weiter durch, bis an das Ende des Plazas, das sich genau gegenüber vom Balkon des Regierungspalastes befand. Drängeln, schubsen, schieben. Junge Argentinier hatten sich die besten Plätze auf Laternen, Statuen und Zäunen gesichert. Aber näher als ich konnte man fast nicht sein – nur zehn Meter unterhalb, genau in dem Moment nur mit einer kleinen Kamera ausgestattet. Neidisch fiel mein Blick auf dem neben mir stehenden Argentinier, der mit dem richtigen Equipment Evo im Großformat abbilden konnte. Aber Stimmung kann eine Kamera ohnehin nicht einfangen. Die erlebt man nur in Echtzeit. Evo winkte vom Balkon seines Palastes und lächelte zum Schluss der Parade unter schwenkenden Fahnen und Evo-Rufen, bevor er wieder in seinen Palast verschwand. Eine Kolonne offizieller Staatskarossen verließ den Plaza und die Abbauarbeiten von Tribüne und Leinwänden begann ebenso schnell, während die Menschenmenge noch paralysiert zum Balkon starrte.
Damit die zweite Amtseinführung Evo Morales am 22. Januar 2010 auch nie ein Bolivianer vergessen wird, ist sie so geschichtsträchtig, dass sie Evo als Nationalfeiertag ausgerufen oder zumindest diesen Tag als Feiertag und somit für arbeitsfrei erklärt hat.
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