Lässig lehnt Armando mit einer Zigarette im Mund und einem Eistee in der Hand an der Hauswand und wirft uns einen skeptischen Blick zu. Linien zeichnen sich auf der braungebrannten Haut des 51-Jährigen ab, die vom harten Leben eines Schäfers in der Bergen berichten. 90 Schafe stehen unter seiner Obhut. Mit ihnen fühlt er sich sichtlich wohler als in der Gesellschaft fremder Menschen, denn reden tut er kaum.
Zu Besuch bei einem Schäfer
Die Familie seines Cousins Fernando Jorge hat uns zu sich eingeladen, um den Abend vor der großen Feier im kleinen Bergdorf Folgosa da Madalena mit ihnen zu verbringen. Donna Maria, seine Mutter, hat Käse zubereitet und zu diesem Anlass einen Kuchen gebacken. Wein fließt reichlich. Jorge, wie er genannt wird, hütet seit seinem fünften Lebensjahr Schafe. Der Rhythmus eines Schäfers geht mit dem Leben seiner 220 Tiere einher, berichtet er. In der Serra da Estrela hört man schon früh am Morgen das Läuten der Glocken, wenn die Schäfer mit ihren Schafen und Hirtenhunden Cão da Serra da Estrela in die Berge aufbrechen. Um 6 Uhr morgens beginnt auch Jorges Tag. Er begleitet dann seine Tiere auf die Weide. Die Rasse seiner Schafe heißt Bordaleira, deren Milch für die Herstellung des bekannten Queijo Serra da Estrela besonders qualitativ ist. Sie werden per Hand gemolken. Schon die Hirtenvölker des Altertums produzierten Schafmilch. 220 Tiere weiden auf 5,5 ha hinter Jorges Haus. Das Grundstück ist groß genug, um im Sommer nicht mehr das Vieh auf saftigere Wiesen in der Höhe aufzutreiben, wie es andere Schäfer während der Transhumanz von Juni bis August tun.
Rita, seine zwölfjährige Tochter, und Joao, sein 84 jähriger Vater, stellen sich zu uns. Rita kann Englisch, sagt ihr Papa stolz. Das selbstbewusste Mädchen hat Angst vor Schafen und wird diese Familientradition nicht weiterführen. Die Augen des Vaters sind dennoch voller Freude. Vielleicht, weil er die Härte des Lebens als Schäfer kennt, und seiner Tochter ein besseres Leben wünscht, vielleicht aber auch, weil er sich eine Frau auf der Weide nicht vorstellen kann. Denn der Schäfer ist hier meistens noch männlich.Das klare Licht des Tages verliert seine Strahlkraft und nimmt der Weide die saftige grüne Farbe. Als die Sonne hinter den Bergen der Serra da Estrela verschwindet, versammeln sich auch die Schafe und legen sich zur Ruhe. Es ist der Abend vor dem großen Tag der Segnungszeremonie Festa de São João, an dem die Sonne am längsten scheint. Es ist Sommersonnenwende. Die Böcke sind längst festlich geschmückt. Wollpuschel und Stickereien zieren die schmalen Köpfe.
Festa de São João – das Segnungsfest der Schafe
Es ist kurz vor 19 Uhr als wir uns am Sonntag in die Autoschlange auf der Dorfstraße einreihen. Das Tempo des motorisierten Verkehrs passt sich an den Schritt der Schafsherden an, die vor den Autos herlaufen. Der Schäfer ist heute der Dirigent der Straße. Ziel ist die Kapelle St. Johannes der Täufer, die die Herden umrunden sollen. Doch auf dem Weg zum Kirchplatz gilt es, noch einige Herausforderungen zu meistern. Passanten sollten nicht in die Schafsherden geraten. Aus der Ferne erkenne ich Armando. Er hat mit seiner Herde schon fast die Kapelle erreicht, als ein Zuschauer die Herde irritiert und aufscheucht. Bei ihrer aufgeregten Flucht durch eine Seitengasse vermischt sich Armandos Herde mit einer anderen – das ist das Schlimmste, was einem Schäfer passieren kann. Armando pfeift, ruft, rennt hinterher. Die Gelassenheit vom Vortag ist längst verflogen. Die Furchen in seinem Gesicht zeigen nun Verärgerung und Sorge.
15 Schäfer nehmen heute am alten Brauchtum teil, erbitten sich Schutz vor Dieben und schlechtem Wetter für ihre Zeit in den Bergen. Längst zelebrieren nicht mehr alle Schäfer die Transhumanz, doch der Segnungsbrauch ist ein buntes Volksfest, das die Menschen der Umgebung zusammenbringt. Auch die pensionierten Schäfer erkennt man an diesem Tag an ihrem Hirtenstab. Stolz stehen die Frauen in den Reihen des Publikums, fuchteln mit ihren Schirmen und feuern ihre Männer an, schieben notfalls auch mal ein Schaf in die richtige Richtung. Überhaupt liegt die Kunst des Spektakels darin, die Schafe in einem geschlossenen Kreis um die Kapelle laufen zu lassen und, damit es den Tieren nicht schwindlig wird, die Richtung zu wechseln. Die Melodie, die sich in die Straßen legt, bestimmen die Schafe und Ziegen. Glockenläuten erobert den Raum, den sonst die Menschen bestimmen. Der beste Schäfer, Miguel, führt seine Herde mit eintretender Dämmerung als letztes um die Kirche. Seine Herde ist mit 500 Schafen so groß, dass er sie teilt. Erst zeigt er die Hellen, dann die Dunklen. Nachdem Miguel den Platz verlässt strömen auch die Gäste nach Hause. Über dem Dorf ertönen noch ein paar Feuerwerkskörper. Dann säubert die Feuerwehr das Kopfsteinpflaster vom Kot der Tiere, den jeder Besucher als Souvenir an seinen Beinen mit nach Hause trägt.
Miguels Gefährte, der 58 jährige Luis do Cruz, stellt sich vor der Kneipe noch kurz zu uns. Er wird in Kürze mit seinen 400 Schafen zur Wanderschaft auf die Weiden auf 1800 m aufbrechen. Dort verbringt er den Sommer bis Ende August. Erfahrung und Kenntnisse sind unabdingliche Begleiter auf seinem Weg in die Berge – in denen er stets neben seinen Hunderten Schafen auch Wetter, Flora und Fauna im Blick haben muss. Alles dreht sich um das Wohl der Schafe – sie liefern die Milch für den würzigen Queijo da Serra, der aus der Rohmilch der Tiere unter Zugabe von Distelblüten hergestellt wird. In der Serra da Estrela ist Schafmilch schon sehr lange Bestandteil der Ernährung. Die Haltung der genügsamen Schafe macht in der Bergregion durchaus mehr Sinn, als die die des anspruchsvolleren Rinds.
Neben der Milch- und Käseproduktion ist auch die Wolle begehrt. So wird das traditionelle Textilhandwerk wieder gepflegt und erlebt gerade einen Boom. In der Serra gab es einst zahlreiche Textilfabriken. Die Konkurrenz aus Asien führte zur Schließung vieler Fabriken. Als João Tomás und seine Gattin Isabel Costa 2013 die dahinsiechende Wollfabrik in Manteigas übernahmen und in ihrer neugegründeten Burel Factory die Produktion farbenfroher Lodenstoffe aus Schafwolle starteten, erlebte die hochwertige Burel-Wolle ihre zweite Renaissance und erhielt die Aufmerksamkeit der Designszene. Längst haben Produkte aus Burel-Wolle einen Platz in den Concept Stores der großen Städte erhalten und findet oft ihren Weg ins Ausland.
Neben den Kreativen zieht die Serra da Estrela aber auch Sportbegeisterte an. Immer wieder quälen sich Rennradfahrer die Serpentinen und Steigungen hinauf. Wir erkunden jedoch das Gebiet lieber zu Fuß. Viele Wege führen teils über alte Römerwege oder sind Pfade, die man mit wandernden Hirten teilt.
Sommersonnenwende in Alvoco de Serra und Wanderung auf traditionellen Hohlwegen
Bunte Papierblumen zieren die Kirche neben dem Flusslauf am Ortseingang von Alvoco de Serra. Auf Tüchern, die an den Hauswänden hängen, prangen die Porträts der Einwohner. Diese bauen unter den Wimpelketten Feststände auf. Aus Lautsprechern ertönt traditionelle Dudelsackmusik. In den Gassen plätschert das Wasser. In diesem Bergdorf starten wir nach einem Picknick am Ortsrand unsere Wanderung auf der Rota das Canadas. Die Gegend auf der Südseite des Torre-Plateaus, die wir auf dem dreistündigen Rundwanderweg durchqueren, ist karg. Ginsterbüsche leuchten im kräftigen Gelb aus der grün-grauen Landschaft. Bäume, die Schutz spenden könnten, gibt es hier nicht. Die Kargheit der Natur äußert sich auch in der Stille. Ziegenglocken ertönen in der Ferne und durchbrechen die sonst lautlose Szenerie.
Als wir drei Stunden später nach Alvoco de Serra zurückkehren, haben sich auch die Straßen des Dorfes gefüllt. Es wird getrunken, musiziert und gespeist. Zur Solsticio, der Sommersonnenwende, werden die Bewohner abends mit ihren Laternen losziehen und die Pfade in der Umgebung erleuchten. Der Caminhada do Lampiao ist eine Tradition unter vielen in der Umgebung, die die Bewohner nun wieder für sich entdecken und mit stolz bewahren.
Wanderung auf der Caniça-Route durch die Wälder der Serra da Estrela
Dunkle Wolken ziehen tief über den Berghängen hinweg, als wir am darauffolgenden Tag an der Pfarrkirche in Lapa dos Dinheiros unsere Wanderung starten. Das Vaterunser tönt aus dem Kircheninneren und begleitet und noch ein Stückweit auf dem Weg. Der vorausgesagte Regen soll uns nicht abhalten, in die verwunschenen Wälder wie den Souto da Lapa mit seinen jahrhundertealten Kastanienbäumen einzutauchen. Dabei folgen wir ein Stück dem Flusslauf des Caniça durch bergiges Gelände. Wir wandern auf Pfaden durch die Kiefern- und Eichenwälder des Naturparks. Vor zwei Jahren vernichtete ein verheerender Brand große Flächen des Waldes. Noch immer zeigen sich am Wegesrand Zeugen dieses Desasters in verkohlter Tracht. Langsam erobert sich aber auch eine noch sattere Natur den Lebensraum zurück. Büsche, Pinienwälder, Weideflächen und Felsen beherrschen das Landschaftsbild.
Es dauert nicht lange, als wir den idyllisch gelegenen Flussstrand von Lapa dos Dinheiros erreichen. Der Ribeira da Caniça wird hier ein wenig aufgestaut. Mehrere aufeinanderfolgende Wasserfälle, die als “Quedas de água da Caniça” bekannt sind, prägen die zerklüftete Landschaft. Geziert werden sie durch Höhlen und Granitfelsen, die sich manchmal in interessanten Formen darbieten, wie der Teufelsfelsen, der mit seinen zwei Hörnern besonders auffällt.
Nach der Wanderung gönne ich mir ein kurzes Bad im Flussbad Loriga. Kalt ist es, 15 Grad höre ich die Einheimischen sagen. Doch das kristallklare Wasser, das die Berge spiegelt, lockt zu sehr, um einmal darin abzutauchen.
In der Ruhe liegt Weisheit, und in den kleinen Dingen steckt wahre Schönheit. Es ist das klare Wasser, der grelle Ginster, der einzelne Stein, die karge Schönheit, die sich in den Details offenbart.
Das Meer ist fern, das bei der Seefahrernation Saudade hervorruft. In den Bergen empfindet man Erdung, das Leben im Jetzt. Allenfalls nachts lässt es sich nach den Sternen greifen, denn am höchsten Punkt des portugiesischen Festlands, dem Sternengebirge, ist man dem Himmel und der Sonne so nah wie nirgendwo. Portugal bekommt in meinen Gedanken ein neues Gesicht, das nicht nur die Weite und Sehnsucht in seinen Linien trägt, sondern diese auch in die Höhe zeichnet.
Was man sonst noch wissen sollte?
- Die Serra da Estrela ist der erste in Portugal eingerichtete Naturpark. Er erstreckt sich auf einer Fläche von 101.000 Hektar. In dem Park liegen die höchste Erhebung des portugiesischen Festlandes und das einzige Skigebiet Portugals, hier entspringen zwei bedeutende Flüsse.
- Der nächstgelegene Flughafen ist Porto. Mit Auto sind es von Porto aus noch 160 Kilometer (ca. 2,5 Stunden) bis zur Serra da Estrela.
- Übernachtung: Casa das Penhas Douradas Design Hotel e SPA: Auf 1500 Meter Höhe inmitten der Berglandschaft von Manteigas findet man im einstigen Kurhotel für Tuberkulosekranke, das zu einem stilvollen Wellnesshotel umgewandelt wurde, viel Ruhe.
- Aktivitäten: Die Serra da Estrela ist gut geeignet für Wanderer, Rennradfahrer und Mountainbiker. Anlaufstelle für Touren und Ausflüge in die Serra da Estrela ist die Forschungseinrichtung und Parkverwaltung CISE – Centro de Interpretação da Serra da Estrela in Seia, die auch regelmäßig geführte Touren in die Berge anbietet.
- Wanderung: Rota das Canadas von der Kapelle Sto. António in Alvoco da Serra. 3 Stunden auf Hohlwegen durch steinige und karge Natur.
Distanz: 6 km
Kumulierte Höhenmeter: +379m / -379m
Niedrigster/höchster Punkt: 682 m / 1050 m
Schwierigkeitsgrad: III – mittel - Wanderung Canica-Route von Lapa dos Dinheiros. 3,5 Stunden auf dem sehr grünen Weg durch Wälder.
Distanz: 7 km
Kumulierte Höhenmeter: + 471m / – 471m
Niedrigster/höchster Punkt: 622 m / 922 m
Schwiedrigkeitsgrad III – mittel - Besuch der Wollfabrik Burel in Manteigas
- Besuch der Aldeias de Montanha: Das Projekt Aldeias de Montanha belebt seit 2013 verschiedene Feste und Traditionen neu. Zwei Wochen nach der Bênção dos Rebanhos (Segnung der Herden) findet die Festa da Transumância statt. Zur Sonnenwende gibt es verschiedene Dorffeste, Festa da Solsticio.
- Weitere Informationen zu der Region findet man auf der Webseite Centro de Portugal.
Ich wurde von der Regionalagentur für Tourismusförderung des Centro de Portugal zu dieser unbezahlten Recherchereise eingeladen. Alle Ansichten sind meine eigenen.