ENGLISH VERSION HERE
Den Takt von Peking gibt mein eigenes Gefühlskorsett vor. Von einem Hoch bewege ich mich ins nächste Tief. Verbotene Stadt, Himmelstempel, Platz des Himmlischen Friedens… der Puls der Stadt frisst mich auf, nicht aufgrund der Geschwindigkeit, sondern aufgrund der Masse. Die Masse an Dingen, die man sehen sollte genauso wie die Masse an Menschen, die einen schlichtweg überrollt. So werde ich zur Getriebenen im Hamsterrad der Sehenswürdigkeiten und verschwinde selbst zwischen unzähligen chinesischen Reisegruppen. Immer wieder ergreift mich der Flucht-Reflex. Ich stehe in der Verbotenen Stadt und denke, wow, oder denke vielmehr, soll ich jetzt wow denken, während ich von den Reisegruppen eingekeilt werde und dem Terror der Mikrofone ausgesetzt bin. Immer wieder denke ich, nehmt den Chinesen die Mikros weg. Wer hat die denen verteilt? Denn in Peking finde ich alles, außer ein Stück Ruhe!
Und dann verliere ich mich in den Hutongs – ob in der Wudaoying Gegend oder um die Qian Hai und Hou Hai Seen, schaue links und rechts in die Wohnhöfe, finde viele liebevoll gestaltete Lädchen, erliege dem Duft der Räucherstäbchen. Begeistert schlendere ich durch die Straßen um den Lama- und Konfuziustempel herum. Hier wird das Große einfach beschaulich und das Kleine einfach richtig groß. Als wir hier abends in einem der zahlreichen vegetarischen Restaurants speisten, war ein Mönch von unserer Anwesenheit so beglückt, dass er uns immer wieder zum Drehen der buddhistischen Gebetsmühle aufforderte und mir am Ende mit Bedeutungsschwere zwei Worte ins Ohr flüsterte „Dalai Lama“. Immer wieder finde ich in diesen Tagen viel Freude und Neugierde in den Gesichtern der Menschen, wenn sie uns Ausländer erblicken. Nie wurde ich so viel von fremden Menschen fotografiert wie hier, nie wurde man so oft grundlos gegrüßt.
Ich beginne gerade, die Stadt zu mögen und werde an der nächsten Stelle – in der U-Bahn – überrannt. Hier werden Ellenbogen ausgefahren, die beim Einsteigen zum vollen Einsatz kommen. Erst aussteigen, dann einsteigen? Ist doch Quatsch. Dennoch begeistert mich die U-Bahn vom ersten Augenblick. Alles ist zweisprachig ausgeschildert, alles ist sauber, sicher und wird zudem überwacht. 1984 ist überall, vielleicht auch nur in meiner Fantasie. Was mich am ersten Tag noch verunsichert, ist schon am zweiten bloße Routine. Ob der Sicherheitsmann auf dem Bademeisterhochsitz bei H&M, die Sicherheitsschleusen in der U-Bahn, die permanent aufgestellten Kameras überall in der Stadt. Wir sind in China, also muss sein, was man erwartet? Oder ist es meine eigene Sensibilität? Denn was ich daneben sehe ich eine Masse an Smartphones, vielfach iphones, und ipads. Willkommen in der schönen neuen „Technik“-Welt. Stoisch wird auf die Geräte gestarrt, ob auf einen Film, ein Spiel, Sina Weibo oder Renren und Co. Daneben stehen Einkaufstaschen mit der Aufschrift nicht unbekannter Marken. Peking ist ein einziger Rausch, auch Konsumrausch.
Nach einem Tag bin ich bereits so reizüberflutet, dass ich mir eine Auszeit in der Sommerresidenz Yihe Yuan vor den Toren der Stadt erhoffe. Riesige Parkanlagen mit dem künstlich angelegten Kunming See und Tempeln sollen uns erwarten. Peking bietet ohnehin unerwartet viele Grünflächen und Wasser. Eine einstündige Bootsfahrt zum Sommerpalast verspricht Ruhe und Genuss. Und tatsächlich fühlen wir uns auf den ersten Metern wie im idyllischen Landwehrkanal Berlins. Bis wir nach 20 Minuten das Boot wechseln und die Tonanlage angeschmissen wird. Was Ruhe verspricht, wird Gehirnwäsche ohne Inhalte. Eine Frau mit penetranter Stimme beginnt nun eine halbe Stunde ununterbrochen auf die Fahrgäste einzureden. Ob es Infos zum Sommerpalast sind oder ob sie das kommunistische Manifest runterbetet oder immer wieder „Huhn mit Ei“ sagt, wir wissen es nicht und es ist für mein inneres Gleichgewicht auch völlig unerheblich. Der Rest ist ein Schwimmen in der Masse. Das habe ich zu Teilen in meiner Kindheit gelernt und doch war ich darauf nicht vorbereitet, ich habe schlichtweg die Masse an Menschen unterschätzt.
Alles hat seinen Preis, nicht nur jede Sehenswürdigkeit auch jeder Park. Es ist nicht teuer, aber die Summe macht es. Immer wieder frage ich mich, wie können sich das alles die Chinesen leisten, denn der Preis bedeutet nicht gleich eine Regulierung des Besucherstroms. Alles ist eine Frage der Dosis, auch Peking.
Nur der Besuch im Mausoleum bleibt kostenfrei. Mao ist für alle da, ob arm, ob reich, ob Chinese, ob ausländischer Tourist. Noch schnell Kamera und Gepäck gebührenpflichtig abgeben und dann geht es los im Strom – einmal in weniger als 30 Sekunden durch oder besser links an Mao vorbei. Alles was mir aus dem Sarg hängenbleibt, sind seine Plastiklippen. Fast wollte ich sagen, er sei für ein Wachsfigurenkabinett angefertigt worden und am Ende wollte ihn keiner haben, so dass er nun im Mausoleum liegt. Man hätte mir alles als Mao präsentieren können, auch eine Puppe, denn anders sah der wohl echte auch nicht aus. Mit zu Tränen gerührten chinesischen Touristen verlasse ich verwundert den Raum, wo gleich die Straßenverkäufer mit Mao-Utensilien aller Art auf uns warten und mit ihnen die Reisegruppen.
Als wir am Abend im Behaipark wieder von Mikro-Terror zu Mikro-Terror wandeln, lassen wir uns schließlich resigniert auf einer Bank im Pavillon nieder. Was mich im nächsten Moment erfasst, berührt mich zugleich tief im Herzen. Eine bezaubernde Männerstimme die melancholische Lieder zum Besten gibt gemeinsam mit seinen ebenso betagten Chorpartnern im Hintergrund. Ob es Arbeiter- oder Kampflieder sind, ist mir egal. In diesem Moment bin ich ganz in China, lasse mich fallen und von den Reizen verzaubern – während hinter mir chinesische Männer ihre Drachen in den Himmel steigen lassen. Nie sah ich Drachen so hoch in den Lüften wie hier. Als wollte Peking nicht nur die Menschen erobern sondern gleich den Himmel und das Universum mit.
Begleitet uns auf unserer Reise unter dem Hashtag #puriygoeseast
Zum Teil 1: Moskau – Wo russische Märchen beginnen.
Zum Teil 2: Hop on, hop off und manchmal geht gar nichts … Moskau Teil 2
Zum Teil 3: Missverständnisse und der Luxus Bahnreisender. Transsib Teil 1
Zum Teil 4: Nach Asien auf dem Landweg. Transsib Teil 2. Jekaterinburg und die Fahrt nach Krasnojarsk
Zum Teil 5: Durch Sibirien. Transsib Teil 3
Zum Teil 6: Am Baikalsee. Transsib Teil 4
Zum Teil 7: Irkutsk – das Paris des Ostens? Transsib Teil 5
Zum Teil 8: Über Ulan-Udè, Bator und unseren letzten Tag in Russland. Transsib Teil 6
Zum Teil 9: Zug Nummer 4 – und einmal durch die Mongolei. Transsib Teil 7
Zum Teil 10: Datong und die Tour mit den Touren. Transsib Teil 8
Zum Teil 12: Im Dunstkreis der Mauer oder 40 Minuten verschwendete Lebenszeit
Auf unserer Reise werden wir durch Lernidee unterstützt. Alle Ansichten sind unsere eigenen.
ENGLISH VERSION
Beijing – where kites ascend into the sky.
The rhythm of Beijing is set by my own emotional condition. I move from a high to the next low. Forbidden City, Temple of Heaven, Tiananmen Square… The pulse of the city devours me, not because of the speed, but because of the masses. The masses of things you should see as well as the masses of people, which is simply overwhelming. I am becoming the driven person in the hamster wheel of sights and disappear between countless Chinese tour groups. I can feel the escape reflex again and again. I am standing in the Forbidden City and think “wow”, or I rather think, should I think “wow” now, while I am being wedged by tour groups and exposed to the terror of the microphones. Take away those microphones from the Chinese! Who handed them out? I can find everything but some peace and quiet in Beijing.
And then I lose myself in the hutongs – whether in the Wudaoying area or around the Qian Hai and Hou Hai lakes, I look into the courtyards to the left and to the right, find fondly designed small shops and succumb to the smell of incense sticks. I stroll excitedly through the streets around the llama and Confucius temple. The big things become contemplative here and the small things become big. When we had dinner in one of the numerous vegetarian restaurants here, a monk was so happy about our presence that he asked us over and over again to spin the Buddhist prayer mill and whispered two very significant words into my ear in the end: “Dalai Lama”. I can find a lot of joy and curiosity in the faces of the people here when they see foreigners like us. Never before was I photographed so much by foreign people like here, never greeted so often without a reason before.
I was just about to start liking the city when I get run down in the next place – the metro. People are sharpening their elbows here and they are definitely using them to get in. Getting off before getting in? That’s rubbish! But the metro still fascinates from the very beginning. Everything is signposted in two languages, it is clean, safe and also monitored. 1984 is everywhere, or maybe just in my fantasy. Things that still irritated me on the first day are routine the next. Whether it is the security guard on a high seat at H&M or the security checkpoints in the metro or the omnipresent cameras everywhere in the city. We are in China, so it has to be as you expected? Or is it just my own sensitivity? Because the things I see next are masses of smart phones, mostly iPhones and iPads. Welcome to the beautiful new world of technology. People stare stoically onto their devices, watch a film, play a game, Sina Weibo oder Reneren and Co. Next to them are shopping bags with the label of unknown brands. Peking is a binge, a consumption binge, too.
It was already so much overstimulation for me after one day that I really hope for a little bit of a time-out in the summer residence Yihe Yuan outside the city. Huge parks with the artificially designed Kunming Lake and temples are waiting for us. Beijing has many unexpected green areas and a lot of water anyway. A one-hour boat trip to the summer palace guarantees peace and quiet. And we really feel like being on the Landwehrkanal in Berlin on the first few metres. Until we change the boat after 20 minutes and the sound system is turned on. What was supposed to be peace and quiet is turning into brainwashing without content. A woman with a very obtrusive voice starts talking insistently to the passengers. We don’t know whether she is giving information to the summer palace or reciting the Communist Manifesto or saying “chicken with egg” again and again. But it doesn’t matter and it is totally irrelevant for my inner balance. The rest is floating in the masses. I learned that in parts during my childhood, but I still wasn’t prepared for that and simply underestimated the masses.
Everything has its price, not only every sight, but also every park. It isn’t expensive, but it is the total that counts. I am asking myself again and again how the Chinese can afford all that, as the price doesn’t automatically mean a regulation of the stream of visitors. It’s all a question of the dose, even in Beijing.
Only the visit to the mausoleum is free. Mao is there for everyone, whether rich or Chinese or foreign tourist. We quickly store our bags and camera away for a fee and then we are going with the flow – going through Mao or rather past Mao once in less than 30 seconds. Everything I remember from the coffin are his plastic lips. I would almost say that he was made for a wax museum, but in the end no one wanted him and so he came to the mausoleum. They could have sold me everything as Mao, even a doll, because the real one didn’t look any different. I leave the room next to Chinese people with tears in their eyes and there are already street vendors outside trying to sell Mao-souvenirs and the tour groups are waiting, too.
As we walk through the Behaipark in the evening, microphone terror is disturbing the night, so we sit down resignedly on a bench in the pavilion. What I hear at that moment touches my heart deeply. It is a lovely male voice singing melancholic songs accompanied by a choir in the background. Whether they are songs about work or battle, I don’t care. I really arrived in China at that moment. I let myself go and I am mesmerised by the charms – whereas Chinese men are flying kites behind me. I have never seen a kite fly so high in the air like here. As if Beijing doesn’t only want to capture the people, but also the sky and the whole universe.
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Hab ich Dir ja schon geschrieben: Ein ganz, ganz toller Artikel! Und Du weißt vielleicht, dass ich mit Riesenlorbeeren nicht so um mich schmeiße. 😉 Ich finde sowohl die Fotos toll aber noch toller den Artikel selbst, ich konnte mir das richtig vorstellen, und seltsamerweise hat der Artikel gleichzeitig Lust auf und Abscheu vor Peking erzeugt.
LG /inka
Danke für das große Lob, liebe Inka! Das freut mich riesig! Und ja, Peking sollte man unbedingt besuchen… und sich nicht durch meine beschriebene Gefühlslage davon abbringen lassen 😉 Nach den Tagen in der Bahn überrollte mich erst einmal alles, aber irgendwie auch auf eine positive Art und Weise. Ich habe auf jeden Fall Lust auf mehr China bekommen, so lange ich immer wieder Ausgleichsorte für Ruhe und Entspannung finde… LG, Madlen
Oh, das klingt spannend!! Ich bin grad auf Recherchetour für 3 Tage Peking-Aufenthalt Anfang September. Danke für die Eindrücke! Das klingt wunderschön und anstrengend zugleich. Ich bin gespannt, was mich da erwartet…
Ich war sehr positiv von Peking überrascht. In 3 Tagen schafft man auch einiges, gibt ja ein wirklich gutes U-Bahn-Netz. Wünsche Dir ganz viel, Spaß liebe Mandy und viele Eindrücke! LG, Madlen