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2016

Breitscheidplatz

Aus den Boxen tönt „Voyage, Voyage“ von Desireless während die blondierte Mittvierzigerin neben mir nicht müde wird, im Stakkato zu erklären, dass wir von einer links versifften Regierung regiert werden, die längst nicht mehr des Volkes Stimme ist. Lügenpresse, Massenabschiebung, Pegida, Multikultischeiss dringen an mein Ohr. Am liebsten würde ich den Song im Radio noch lauter drehen – aber ja, nach Ägypten könne man ja nicht mehr reisen, in die Türkei auch nicht und überhaupt, am besten ist es schon Zuhause, doch diese Sicherheit ist nun auch gegangen. War sie, wenn wir ehrlich sind, schon zuvor. Aber alles manifestiert sich jetzt in dem Ereignis vom Montagabend – alle Ängste, aber auch die Wut und der Hass. Denn die Gefahr stand vor der eigenen Haustür, hat schon einmal geklingelt. Wann sie wieder zu Besuch kommt, ist ungewiss.

„Alle denken so“, gibt die Kundin auf dem Stuhl neben mir lautstark zum Besten, um noch einmal die Quantität ihrer Aussage zu unterstreichen. Meine Friseurin flüstert mir ins Ohr, dass das schon seit gestern Morgen so ginge. Kunden und Kundinnen, die in dem Attentat auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz eine Legitimation für ihr rechtes Gedankengut sehen, sich in der Mehrheitsmeinung wähnen – und dies mitten im Herzen vom alternativen Berlin-Friedrichshain, meinem Kiez, in dem die Grünen regelmäßig Traumquoten einfahren.

Friedrichshain

Es ist Mittwoch, Winteranfang. Seit Tagen liegt über Berlin ein grauer Schleier. Letzte Laubreste wirbeln durch die Luft. Gänse fliegen in Formationen über die Stadt und unterstreichen das Gefühl, das man seit Tagen hat. Man möchte weg. Doch heute scheint der Himmel den Menschen wieder ein Lächeln zu entzaubern, sie mit dem roséfarbenem Lichtstreifen auf hellblauem Hintergrund zu verzaubern. Auf die Dächer der Häuser setzt sich ein orangener Schimmer, wärmend und wohltuend zugleich. Wie eine Mütze. Am Ende der Häuserschluchten ist Licht. Überall redet man davon, wir tragen das Licht in uns, wir Berliner sind entsetzt und berührt, lassen uns aber nicht unterkriegen. „Alles Lüge“, meint die Frau im Salon im stärksten Berliner Dialekt. Sie hat Angst, will keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr fahren und aus jedem Wort klingt purer Hass. Der Boomerang Merkelscher Asylpolitik schlägt wie eine Keule zu und lässt an diesem kalten Tag meine Glieder erstarren, denke ich nur an das kommende Wahljahr. Denn schnell kann man sich unter Gleichgesinnten eine heile Welt in den schmutzigen Ecken unserer Gesellschaft aufbauen. Nur weil man die unerwünschten Meinungen nicht hört und sieht, sind sie mitnichten nicht da. Wir spielenden Kinder unter unseren wohlig warmen Decken, die sich im Malbuch ihre Welt selber malen und glauben, nicht gesehen zu werden, weil die Decke über uns liegt, wie der orangene Lichtstreifen der Friedrichshainer Arbeiterhausarchitektur einen freundlichen Anstrich verpasst.

Da muss ich mit einem Schmunzeln an Sascha Lobos Worte denken: „Die im Posting vorgeturnte Haltung sagt mehr über die Gründe, warum Freiburger nach Berlin ziehen als über Berlin, aber es ist eine schöne, warmherzige Geste. Denn sie verbindet zwei Botschaften: Berlin ist, wer nach Berlin zieht. Und: Wir haben keine Angst.“

Es ist ein Jahr, das nach meinem Geschmack nicht schnell genug zu Ende gehen kann – aus privater und globaler Sicht. Gern möchte ich diesem Jahr die Decke überwerfen und sagen: „Dich gibt es aber nicht!“ – in meiner Welt im bunten Malbuch. Ich würde die Thirtys morgen nicht verlassen, und nachdem die Farbe abgepült und die Haare geschnitten sind nicht die Schlüssel meiner geliebten Dachgeschosswohnung um die Ecke an den Hausverwalter übergeben.

Noch einmal schweift mein Blick über die Dächer, als ich auf den Hausverwalter warte. Gerade in dem Moment verliert der Himmel an orange und nimmt einen rötlichen Farbton ein. Der Rauch der Schornsteine zieht in der klaren, kalten Luft abstrakte Formen und Figuren. Ich versuche mich ein wenig in Kaffeesatzleserei, träume von dem Licht der Antarktis, den vielen Sternschnuppen, die ich in meinen Sommernächten auf der Dachterrasse unserer Wohnung sehen konnte, und die mir doch nie meine Wünsche vom Weltfrieden etc. herbeibrachten (weshalb auch?), bevor mich der Verwalter mit Zählerständen wieder in das nüchterne hier und jetzt katapultiert.

Wir gehen hinunter in den Keller, die Beschriftungen der Einheiten sind veraltet. Der Verwalter ist etwas verärgert über die Schilder, die Namen längst ausgezogener Personen tragen. Mein Blick bleibt an unseren Namen kleben, wie sie ein gekritzelter Schrägstrich voneinander trennt, als wollten sie nie zusammen gehören. Auch unsere Namen werden bald nur noch eine Episode dieses Hauses sein, in dem wir elf Jahre lebten und acht Jahre auch arbeiteten.

Friedrichshain

Wenige Stunden später spuckt mich die S-Bahn am Bahnhof Zoo aus. Ich will hier eigentlich in diesem Augenblick nicht sein. Die Budapester Straße ist noch immer gesperrt, Kamerateams reihen sich auf. Auf dem Gehweg kommen mir Menschen mit Kerzen in den Händen entgegen. Die Hütten auf dem Weihnachtsmarkt sind dunkel. Nur Kerzen lodern in der kalten Nacht auf dem Boden, werfen ein Licht auf die zahlreichen Schildern mit Widmungen. „Light is stronger than darkness.“ leuchtet mir entgegen. Weiter würde es auch heißen: „Good is stronger than evil; love is stronger than hate; life is stronger than death.“ Ich versuche die Blicke der Passanten zu erhaschen, die sich traurig auf den Boden richten oder wegdrehen.

Es ist mehr als ein Gefühl, dass sich in meinem Körper breit macht. Der Ort, der am Montag mit der Schreckensnachricht durch meine Timeline lief, als ich vergnüglich in einem Restaurant in Neukölln saß, bekommt plötzlich diese reale Gestalt. Ich sah an jenem Abend, wie sich immer mehr Freunde und Bekannte als „safe“ auf Facebook markierten. Ich fragte mich, bin ich hier, jetzt an diesem Ort überhaupt sicher oder wäre ich es in den eigenen vier Wänden vielmehr? Was sagt dieses Wort überhaupt aus? Das kleine Wort mit so viel Wirkung diente als Baldrian für uns und unsere Geliebten irgendwo in Deutschland oder auf der Welt. Die Absurdität dieser Markierung trat immer mehr in mein Bewusstsein, als Freunde aus El Salvador und Kolumbien dies liketen. Gibt es nicht zu viele Ecken auf dieser Welt, in denen Menschen tagtäglich signalisieren müssten, dass sie noch leben? Mehr als momentane Beruhigung kann das Wort auch gar nicht bieten. Doch wenn wir glauben sicher zu sein, dann haben Angst, Wut und Hass auch weniger Chancen, uns zu vereinnahmen. Und mit uns meine ich auch die Berlinerin im Friseursalon.

Friedrichshain

Ich weiß, die Welt ändert sich nicht und ich mich auch nicht. Sicher ist nichts. Egal wie alt ich bin oder welches Jahr wir schreiben. Willkommen neues Lebensjahrzehnt, aber noch willkommener ist 2017. Nie habe ich das nächste Jahr schneller herbeigesehnt.

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