Wir sind den Rückweg nach Argentinien angetreten. Kaum hat man zwei unbekümmerte, erholsame Tage hinter sich, in denen die einzige Sorge war, wie man die hohen Preise überlistet und sein Budget nicht überschreitet, wird in einem Moment alles zerschlagen. Die Unbekümmertheit ist dahin, die Erholung sowieso und das Budget wieder im Arsch. Und nichts, aber auch gar nichts erinnert an das zufriedene Gefühl, das ich vor 8 Monaten verspürte, als ich den Rio de la Plata in Richtung Buenos Aires überquerte. Nach meiner dreimonatigen Reise hatte ich Uruguay genossen, fand die Leute sehr entspannt und auch die Preise empfand ich nicht allzu hoch. Damals war man mir wohl wohlgesonnener als heute. Denn heute war mein spezieller 35 Dollar-Tag. Ich weiss, es ist ganz allein meine Schuld, und vielleicht ärgere ich mich deshalb auch um so mehr darüber. Aber diese Szene fügt sich schmiegsam in das ganze Bild dieses Urlaubs ein. Es zerstört kein idyllisches Bild, das bisher aufgebaut wäre. Nein, es passt in das ganze Chaos dieses Urlaubs. Und jede kleine Unvorsichtigkeit oder Unkonzentriertheit wird gnadenlos bestraft. Ich fühle mich als ein Pechvogel, dessen Strähne nicht abreissen will.
Ich stehe an der Immigration von Uruguay, als die Dame sagt, sie bräcuhte noch ein Ticket. Ich verstehe nicht, was sie will. Wir hatten nichts, außer unser Fährticket erhalten, als wir nach Uruguay reisten. Ja, genau dieses wolle sie jetzt sehen. Aber wozu? Ich habe doch ein Rückticket für heute. Lange begreife ich nicht. Dann der entscheidende Moment. Lars findet seltsamerweise sein Hinticket und liest, dass es sich hierbei auch um den Einreisestempel handelt. Diesen habe ich vor 3 Tagen in den Müll geschmissen. Nicht gut! Ich werde an einen anderen Schalter verwiesen. Diese Dame ist genau das, was man in dieser Situation braucht. Nicht der Wolf im Schafspelz, der einen zumindest für wenige Minuten in ein beruhigendes Gefühl wiegt, bevor er zuschnappt, sondern sie beginnt gleich in einem überheblichen, besserwisserischen, zickigen Tonfall mit mir zu sprechen. Mit der dummen kleinen Deutschen, die weiter geschröpft werden kann, ohne das sie es gleich sagt. Ich würde am liebsten gleich fragen, mit wie viel kaufe ich mich hier raus, geht doch alles nur um Macht und Geld. Die Macht spielt sie schon aus, das Geld kommt in wenigen Minuten. 35 Dollar und eine Unterschrift, dann bin ich Argentinien ein Stück näher. Zuvor noch eine Diskussion, dass ich nicht wusste, dass dieses Fährticket auch Immigration Formular sei. Ihre Stakkato-Antwort, klar wird das immer gesagt. Sie könne sich nicht vorstellen, dass mir dies nicht mitgeteilt wurde. Mir glaubte man eh nicht, was ich auch sagte. Definitiv hatte mich niemand darauf hingewiesen, aber meine schlechten Spanischkenntnisse unterstrichen eher ihre Aussage und waren somit Beweis genug. Ich konnte also die Dame in der Immigration gar nicht verstanden haben, war somit zu blöd und somit zum Schröpfen freigegeben. Ich weiss zu differenzieren und mir ist auch in diesem Moment klar, nicht alle Uruguayer sind so. Aber ich kann nichts für meine Gefühle. Vor drei Wochen habe ich angefangen, diese spanische, argentinische, uruguayische Zickenmentalität zu hassen und ich werde sie auf dieser Reise auch nicht mehr lieben können. Schön, wenn man dann gerade Andreas Altmann liest, dessen Meinung nach alle anderen Völker den Deutschen gegenüber Gelassenheit voraushaben. Ich glaube, es liegt Jahre zurück, als ich aufhörte, alle anderen Völker geourgous, great und so friendly zu empfinden. Manchmal ist mir flache, stumpfe, unfreundliche Ehrlichkeit am liebsten.
Nun erfolgt der zweite Teil meiner Tagesbeschreibung, und diese geht der einfachen Frage nach, gibt es mehr als Lärm? Ich bin in Lateinamerika, mit dieser Tatsache werde ich unmißverständlich permanent konfrontiert. Lärm, Krach, Lautstärke – kein Wort ist treffend genug, um den permanenten Reizüberfluss meiner Ohren zu beschreiben. Zunächst begrüßt uns in Argentinien das chaotisch organisierte Gepäckband. Es gibt zwei Bänder. Es gibt auch zwei Fähren, die gleichzeitig ankommen. Wo finden wir nun unsere Rucksäcke. Die Menschenmenge zweier Fähren quetscht sich um ein Gepäckband, dass seine Runden dreht. Das andere bleibt still. Gedrängel, Gegacker – ich will hier schnell raus!
Wir werden auf die Straßen entlassen und marschieren in der Mittagshitze einer vielbefahreren Strasse entlang, Verkehrslärm im höchsten Pegel inbegriffen, bis wir den Busbahnhof erreichen. An Ruhe auch hier nicht zu denken. Wäre mein spärlich angesammeltes Maß an Erholung nicht schon an der uruguayischen Immigration flöten gegangen, wäre diese spätestens hier aufgezehrt wurden. San Antonio de Areco – eine alte Gauchostadt westlich von Buenos Aires soll Ruhe bringen. Bis dahin liegen drei weitere Stunden Lärm, Krach, Lautstärke vor uns – eine im Busbahnhof und zwei im Bus. Nachdem wir unsere Tickets in die Ruhe gekauft hatten und uns einen Warnhinweis bezüglich unserer Rucksäcke anhören mußten, die wir nie aus den Augen lassen sollten, denn hier gäbe es nur Diebe, suchte ich eine Sitzbank und Lars einen Saftverkäufer auf. Ich saß nun eingekeilt zwischen zwei großen Rucksäcken, einen kleinen Rucksack und einer Tasche und war mit Blick und Gehör auf Alarm gestellt. Nicht Diebe vergriffen sich an unseren Sachen, sondern eine sechsköpfige Familie an meinen Sinnen und Nerven. Denn ich vergass zu erwähnen, dass ich nach vorne hin eingekeilt war zischen Sitzlehne und meinem Gepäck, die Seiten aber waren offen für diese besagte Familie, bestehend aus Eltern und vier Kindern, die in aller Regelmäßigkeit die an den Sitzen befestigten Fernseher mit Münzen bedienten. Die Familie sah aus, als könnte sie wahrlich ihr Geld in bessere Dinge investieren, als es an das lärmende Ding zu vergeuden, das scheinbar nur einen Lautstärkeregler nach oben zu kennen schien. Das einjährige Kind starrt mit großen Kinderaugen auf die Glotze, während es Pommes in sich hineinmampft. Die Eltern rühren sich nicht. Sie reisen mit schwerem Gepäck und so gern mag ich ihre Geschichte erfahren, doch verharre ich in beobachtender Stille.
Wie froh bin ich, als mich der Aufruf zur Ankunft und Abfahrt meines Busses aus diesem Albtraum holt, doch im Bus wird es nicht besser. An das Bakschisch für den Gepäckbelader habe ich mich inzwischen gewöhnt. An die Unfreundlichkeit der Busfahrer und Servierer ebenso. Wir leben in einer Bakschischrepublik scheint sehr gut auf Argentinien zuzutreffen. Naja, da suchen wir unsere Plätze auf und sehen, dass sich diese in der letzten Reihe befinden, direkt unter der lärmenden Lüftung. Die Ohrenstöpsel habe ich für diese zweistündige Fahrt in mein Hauptgepäck verstaut. Also heißt es, in Starre verfallen und den Lärm über sich ergehen lassen.
San Antonio de Areco ist nur ein Stopp auf einer längeren Reise für die meisten Passagiere. Wir werden tatsächlich in die völlige Ruhe einer Kleinstadt entlassen. Kaum zu Glauben. In der nachmittäglichen Hitze dieser Pampas scheint in den Straßen dieser einstöckigen alten Bauten alles zu ruhen. Die Läden sind geschlossen und kaum ein Mensch ist auf den Straßen zu sehen. Unsere Unterkunft liegt am anderen Ende des Ortes – ca. 1 Kilometer Fußmarsch liegen vor uns bis zum herrlichen Ateliershaus La Demorada, das uns in den nächsten zwei Nächten beherbergen wird. Hier zirpen die Grillen, die Vögel zwitschern und der Garten und die Veranda laden zum Müßiggang ein. Wir schleppen aus dieser idyllischen Umgebung heraus, um die Kleinstadt zu erkunden. Auch der Hauptplaza liegt um diese Zeit brach. Sehr schön, aber unbelebt – auch die umliegenden Cafés und Bars. Das Leben erwacht hier erst wieder ab 17 Uhr, lassen wir uns sagen und gehen zum Rio. Auch hier nur wenige Menschen, deren Zahl sich wohl in den nächsten Tagen erhöht. Denn das bevorstehende Wochenende wird viele Porteños an seine Ufer locken. Ich möchte den Augenblick der völligen Ruhe festhalten und archivieren, um davon die nächsten Tage zu zehren.