Momentaufnahmen
Schreibe einen Kommentar

Linien – Ein Sprung in der Zeit

Header-Japan

10,5 Stunden gefangen über den Wolken, an einem Ort, an dem Zeit keine Rolle spielt. Himmlisch schön der Gedanke. Ich sitze in der abgedunkelten Kabine, habe den Sitz zum Schlafen eingestellt. Business Class Feeling à la ANA. Durch die zerkratzte Scheibe sehe ich unter mir die Seen Russlands gefroren. Eisflächen lugen zwischen der Wolkendecke hindurch, Kälte lässt sich nur erahnen. Mein Uhrzeiger zeigt auf 3 – es ist nachmittags, es ist der 29.11., als sich die Landschaft in der Dunkelheit verliert. Ich schließe die Fensterklappe, schließe die Augen, rolle mich auf den Sitz und ziehe mir die Decke über das Gesicht.

Lost in translation. Vor mir Japan, unter mir Russland, hinter mir Deutschland.
Irgendwie bin ich verloren zwischen den Zeitzonen – der Jetlag der Karibik hängt mir noch nach, voraus eilt mir die Zeit. Im Kopf liegt das Gewesene. Was ist, legt sich bald schon als Vergangenheit ab, wird gespeichert, wird nie wieder sein. Allenfalls ein Gedanke, eine Erinnerung. Doch wann ist meine Festplatte voll?
Meine Gedanken sind klar und verlieren sich doch im Nebel. Wo bin ich? Und in welcher Zeit? Ist das jetzt und hier, oder nachher und dort, oder doch nur vorhin und ein Traum.
Ich starre auf die Knöpfe die sich um meinen großzügigen Sitz reihen. Der Bildschirm zeichnet eine grüne, geschwungene Linie mit einen grauen Flieger über die grüne Fläche Russlands ein.
Mein Reiseweg, eine Linie. All unsere Wege, eine Linie. Wir sind Spuren in der Luft. Eine Linie, die wir beständig nachzeichnen, um uns sichtbar zu machen, wie hier auf dem Monitor.
Mein Leben eine Linie – mit Zacken und Ausschlägen, nicht so rund geschwungen wie diese Flugroute. Start, Flug, Landung. Mal hart, mal weich und irgendwann endgültig. Jedes Leben gleicht vereinfacht einer Reise. Das Leben ist nicht linear.

Lampions

Es ist wieder so eine Reise, die mit Kopfkino einhergeht, mit der Frage: Tue ich das Richtige? Nicht einmal 12 Stunden vor Abflug erfahre ich dann noch, dass ich mit gerissenen Bändern in den Flieger steige. Trotzig habe ich meine Tasche gepackt. Mit mir geht eine Schwere. Es gibt nie für irgend etwas den richtigen Zeitpunkt. Es gibt Entscheidungen die müssen getroffen werden und Entscheidungen, die längst getroffen sind, wenn man überhaupt anfängt, darüber nachzudenken. Vielleicht würde ich morgen anders reagieren oder hätte es gestern getan. Aber heute will ich nur weg. Bandagiere! Packe Ibuprofen ein! Rat der besorgten Gesundheits-Expertin nach dem MRT. Überhaupt Ibuprofen sollte immer und gegen alle Schmerzen helfen, Bandagen immer stabilisieren. Ich fühle mich zurückversetzt in den März – unter Schmerzen flog ich nach Mosambik. So viel Belastung wie möglich vermeiden. Rufe daher dieses Mal ein Taxi anstatt die BVG zu nehmen.

Der Himmel über Berlin strahlt in seiner unwirklichen rosaroten Farbe eine Kälte aus, die die Stadt umgibt, als ich die Torstrasse entlangfahre – ich gehe immer mit Wehmut und kehre zurück mit Demut. Der Taxifahrer ist freundlich und dezent zugleich. Sieht man mir meine Schwermütigkeit oder Vorfreude an, die ihm zum Schweigen bringt, obwohl die Worte aus ihm herausquillen wollen? Aus der zarten Skyline Berlins ragt der Fernsehturm heraus. Eine Linie, die nicht ruhen will. Eine Schablone mit Extremen und Ausschlägen, die sich irgendwo auf Tokio übertragen lässt.

Noch genieße ich das wohlige Gefühl, vom sicheren Sitz eingeschlossen zu sein und schweigen zu dürfen. Meine Gedanken lasse ich im Flieger. Unter mir die Skyline Tokios. Bin wieder an einem Ort in einer Zeit. Habe 8 Stunden verloren und bin doch auch 8 Stunden dem Ende näher, das noch irgendwo ungewiss in der Ferne liegt. Bin an einem Ziel, bin der Zeit voraus. Mache Zukunft zur Gegenwart, indem ich den Ort wechsele. Und Die Gegenwart zeichnet mir eine neue Linie in den Kopf, die schon im nächsten Moment Vergangenheit ist und bestenfalls eine Geschichte bildet, die ich speichere und als Erinnerung hervorkrame.

Geflogen mit All Nippon Airways am 29.11.2018. Mehr zu Japan demnächst.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert