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Im Dunstkreis der Mauer oder 40 Minuten verschwendete Lebenszeit

Chinesische Mauer

Zugegeben, ich hatte Respekt. Sehr viel sogar. Denn ich erwartete Menschenmassen. Hat man Peking erlebt, überlebt man auch die Mauer, habe ich mir gedacht und so sah unser dritter Tag in Peking einen Ausflug zum Highlight schlechthin vor.
Aufgrund des unbedingten Willens, viel sehen zu wollen, buchten wir da, wo man vielleicht nicht buchen sollte – bei einem Typen, der uns vor der Verbotenen Stadt angequatscht hatte. Aber in Datong war ja die Nummer mit den Touren auch sehr positiv gelaufen, also vertraute ich ein zweites Mal.

Chinesische Mauer bei Nebel

Chinesische Mauer bei Nebel

Was das Tagesprogramm neben Mauer und Ming Gräbern noch alles vorsah, hatten wir in unserer hellen Vorfreude, in der wir uns befanden, wohl nicht ganz im Blick. Manche Veranstalter nennen es Museumsbesuch, andere chinesische Fabriken. Schon nach anderthalb Stunden fuhren wir auf den Parkplatz einer Kupferfabrik namens Huariou Cloisonne Factory. Es gab sechs kleine Räume, in denen wir die sechs Schritte der Handwerkskunst präsentiert bekamen. Sie suggerierten uns tatsächlich einen Museumsbesuch, wären wir dort nicht in weniger als zehn Minuten durchgeschleust wurden. Denn es gab etwas größeres, das uns erwartete, ein Verkaufsraum – mit viel Geschirr, Figuren und Schmuck aus Kupfer und Emaille. Trotz 500jähriger Tradition nicht so antik wie die Mauer, die uns auf dem nächsten Stopp erwartete.

Zur Chinesischen Mauer hier entlang

Zur Chinesischen Mauer hier entlang

Mit dem Sessellift zur Chinesischen Mauer

Mit dem Sessellift zur Chinesischen Mauer

Wir hatten die Große Mauer bei dem kleinen Ort Mutianyu ins Auge gefasst oder vielmehr von unserem Touranbieter empfohlen bekommen. Denn das Badaling-Mauerstück sei nicht gut für uns und viel zu überlaufen. Stattdessen wurde jedem westlichen Touristen das Mutianyu-Mauerstück als einsam und wunderschön ans Herz gelegt. Und die Chinesen bewiesen Geschmack. Doch irgendwie begann dennoch mein Gehirn gleich zu rattern. Wenn nur hundert Touristen „hier“ schreien, verliert auch dieses Stück seine Einsamkeit. Doch dieses Problem sollte sich im chinesischen Dunst auflösen. Letztendlich hätten Tausende Menschen auf der Mauer stehen können, ohne dass sie mich nur irgendwie gestört hätten. Denn was ich sah, war so ziemlich nichts. Und das war die eigentliche Enttäuschung.

Noch unten im Tal, als sich unsere Straße durch die hügelige Landschaft schlängelte, bekam ich so ein wohliges Reisegefühl. Nach den letzten stressigen Tagen in Städten und Zug war ich endlich zurückgekehrt, wo ich mich am wohlsten fühlte – auf’s Land, in die Natur. Obstbäume säumten den Straßenrand, der vielen Pekingern als Garten und Supermarkt diente. Ich rollte die Scheibe runter und atmete endlich frische Luft ein. Gern hätte ich außerplanmäßig gehalten, um mich einfach für ein paar Stunden in der grünen Landschaft zu verlieren. Doch dazu war keine Zeit. Und kaum in Mutianyu angekommen, entschwand mir das Grün. Verkaufsstände säumten den Weg, den wir zu Fuß weitergingen, bis sich Christina, unser Guide, kurz aus dem Staub machte, um mit unseren Tickets zurückzukehren. Seilbahn oder Sessellift war hier nun die Frage. Gehen leider keine Option. Selbst ohne Muskelfaserriss, der mich vor meiner Abreise heimsuchte, waren zwei Stunden einfach zu kurz. Denn auf unserem Programm stand noch so viel, nur was, das war uns unklar.

Auf der Chinesischen Mauer

Auf der Chinesischen Mauer

Dann sehen wir eben heute nichts

Dann sehen wir eben heute nichts

So schwebten wir durch den Schleier am Bergrücken entlang, bis wir aus unseren wackeligen Sitzen sprangen und hofften, nicht von den hinteren Sitzen niedergerissen zu werden. Und dann waren wir da, mitten im Nebel. Weit und breit war nur Dunst zu sehen. Ob nach links oder rechts, Richtungen waren egal. Meine ärgste Befürchtung der Menschenmassen war nichtig. Stattdessen hätten wir uns mehr auf den Wetterbericht konzentrieren sollen, denn das Desaster hatte sich wohl schon angekündigt. Die wenigen Touristen, die mit uns hochkamen, gingen nach links, also schlugen wir den rechten Weg ein. Ich stolperte mehr schlecht als recht ohnehin gehandicapt über die steinige Oberfläche. Die Mauer bewegt sich im Rhythmus der Landschaft und geht mit ihr jede Bewegung ein. Was von außen ganz schön anmutet, ist einmal obendrauf doch nicht so einfach. So ertönte in den Nebelschwaden immer wieder ein Ächzen und Schnauben. Die Mauer geht bergauf und bergab und ist dabei oft steil und uneben. Der Weg nach rechts endete bald und wir setzten uns am Laege Watch Tower nieder. Aus der Ferne hörten wir Hähne krähen und menschliche Stimmen. Mit Nase und Ohr versuchten wir alles aufzusaugen, was sich uns bot, und das war bestes Landleben. Gern würde ich jetzt reisen, weiter und tiefer ins ländliche China hinein. Doch alle Uhren waren gegen uns und so begaben wir uns auf den Rückweg, um noch einmal die rechte Richtung einzuschlagen, auf der wesentlich mehr Leute unterwegs waren – alles, nur keine Chinesen.

Eine Braut auf der Mauer

Eine Braut auf der Mauer

Ming Gräber

Ming Gräber

Christina sollten wir erst nach zwei Stunden wieder treffen. In einem Ausflugslokal, in dem gefühlt jede Reisegruppe speist. Hier wurde nun an der Zeitschraube gedreht, denn der nächste Halt, die Ming Gräber, waren noch weit. Durch herrliche Gebirgslandschaft auf einer kurvigen Strecke näherten wir uns unserem Ziel, einem der 13 Ming Gräber. Immer wieder wurde uns im Vorfeld gesagt, man müsse die nicht sehen. Ob sie sehenswert waren, kann ich tatsächlich nicht sagen, denn ich bekam das Gefühl, nicht alles gesehen zu haben. Aus anderen Berichten hatte ich in Erinnerung, dass man sich irgendwie auch in Grabkammer begab. Wir jedoch suchten nur den Tempel auf. Die Gräber seien immer ein Miniaturbild der Verbotenen Stadt. Und tatsächlich bekam ich hier schöne Tempelanlagen bedeutend weniger überfüllt vor die Linse.

Seidenfabrik

Seidenfabrik

Der Heimweg war geprägt von stop and go. Es war bereits 17 Uhr. Wir begannen daher auf das zu Bestehen, was wir bereits zuvor schon erbeten hatten: Kein Stopp an Fabriken (oder Museen). Plötzlich setzte Christina ihren mitleidigsten und betroffenen Gesichtsausdruck auf, den sie im Repertoire hatte. Wir wüssten doch, wir müssen da rein. Warum wir müssten? Der Kunde ist doch schließlich so etwas wie der König. Doch was will der König gegen ein kommunistisches Regime schon ausrichten. Nein, es sei „the Government“ und eine „order“. Das wollte ich genauer wissen und ich hakte nach. Die Regierung zwingt Touristen, sich die Vorzeigefabriken anzuschauen oder vielmehr den Markt zu betreten? Und könnten wir das nicht alle umgehen. Niemand würde uns verraten. Nun ja, 40 Minuten müsse unser Auto auf dem Parkplatz stehen, das Ticket sei der Beweis, erwiderte Christina. Es wurde immer wahnsinniger, aber irgendwie plausibel. China mag so einiges erzwingen, vielleicht auch den Seidenfabrikbesuch. Ich hielt still, um kurz danach, als wir an der Fabrik vorfuhren, noch einmal zu protestieren. Das seien 40 Minuten meiner Zeit, meiner wichtigen Lebenszeit, meiner letzten Stunden in China, die Ihr da nehmt! Christina antwortete genervt: „Wo ist eigentlich Dein Problem, Madlen? Lass es doch einfach über Dich ergehen! Geh rein und höre einfach nicht zu, wenn es Dir nicht gefällt.“

In der Seidenfabrik

In der Seidenfabrik

Seidenraupen

Seidenraupen

Sprachlos und paralysiert von dieser Einstellung betrat ich tatsächlich das Fabrikgebäude, in dem uns bereits eine Verkaufsdame begrüßte. Sie begann uns an einem Tisch im Empfangsbereich in weniger als zehn Minuten die Entstehung von Seide zu erklären. Gerade als ich tatsächlich meine (Ab)Scheu ablegte, führte sie uns in die oberen Räumlichkeiten. Es lagen noch mehr als 30 Minuten vor uns. Sie schob uns sanft und bestimmend in einen kleinen Raum, der bis oben hin mit Decken und Bettwäsche gefüllt war. Hier erklärte sie uns nun die besondere Qualität ihrer Decken. Als ich erkannte, wo wir uns befanden, lachte ich erst leise, dann schwappte mein Schluchzen immer mehr nach draußen, bis ich mich zügelte und blitzschnell zum Fotoapparat griff. Ich erkannte die einmalige Story „Meine erste Butterfahrt“. Doch gerade als ich noch am Zoomen war, unterbrach mich die Dame harsch. Keine Fotos, wir stehen im Wettbewerb und so solle niemand von der guten Qualität und den Preisen erfahren. Und das in China! Sie begann mich nun unter vier Augen in die Mangel zu nehmen und pries mir wärmstens ihre Ware an. Was ich denn so aus Seide zuhause hätte. „Nichts, aber auch gar nichts“, erwiderte ich. Aber mir gefiele bestimmt irgendetwas. Ich solle mich nur umschauen. Angewidert entgegnete ich: „Nichts, aber auch gar nichts gefällt mir. Alles super ugly! Und maßlos überteuert sowieso!“. Sie begann langsam zu verstehen. Doch gerade als sie sich abwenden wollte, um uns die restlichen 20 Minuten in den riesigen Verkaufshallen der Seidenfabrik selbst zu überlassen, kam die Guide-Dame der anderen Gruppe von Beijing Youth Travel Service.

Völlig in Hip Hop-Style gekleidet begann nun auch sie auf mich einzureden und zückte ein hässliches Negligé. Lars fragte sie daraufhin, ob sie so etwas trägt. Sie bejahte ohne eine Miene zu verziehen. Es sei doch sicherlich sehr schön, wenn ich meinen Freund damit überraschen würde. Nun ja, ist die Frage nach Ziel und Wirkung. Wir begannen jedes Teil einzeln aus dem Regal zu ziehen und uns zu belustigen bis es ermüdete. Still ten minutes to go! Die verbrachte ich stoisch drein schauend auf einem Stuhl an der Seite der Fabrikhalle. Bis wir genau 40 Minuten nachdem wir die Halle betreten hatten, diese wieder schweigend verließen. Was hatten die mit uns gemacht? Ich konnte nur noch schreien. Die chinesische Regierung zermürbt nicht nur ihre eigene Bevölkerung, sondern nun auch uns Touristen.

Olympiastadion in Peking

Olympiastadion in Peking

Als wir uns die nächste halbe Stunde nur noch schleichend im Stau vorwärts bewegten, begann ich, mich von den restlichen mehr oder weniger vielversprechenden Zielen innerlich zu verabschieden. Teezeremonie und Olympiastadion standen da noch auf unserem Zettel. Das Olympiastadion machte nur so gar keinen Sinn, befindet sich dieses in völlig entgegengesetzter Richtung. Aber was, wenn man das Stadion nur deshalb in den Plan mit aufgenommen hatte, um den verbandelten Teeladen unbehelligt ansteuern zu können? Plötzlich dämmerte es mir, und es wurde lichter und lichter, bis ich es wagte. Streit um der Wahrheit willen. Ich sagte die Teezeremonie ab. Nein, das würde nicht gehen. Ich verlangte es beharrlich. 40 Minuten meiner Lebenszeit waren genug gewesen. Wem seien sie nun etwas schuldig? Dem small Boss oder dem big Boss? Ein Telefonat brachte immer mehr Licht ins Dunkel. Am anderen Ende war nicht die chinesische Regierung am Hörer sondern der Touranbieterchef.

Schwimmstadion

Schwimmstadion

Nach mehreren Telefonaten lenkte Christina ein. Ein „ja, wir lassen Euch raus“ hätte vollkommen gereicht. Stattdessen entglitten ihr Worte wie, ihr Kollege im Verkauf hätte schlecht gearbeitet, er hätte uns ganz klar sagen müssen, dass wir nicht nur die Mauer und Ming Gräber sondern auch die Fabriken ansteuern würden. Es wird Konsequenzen geben – für diesen Kollegen. Ich schüttelte mit dem Kopf. Nein, hier krankt doch das System, welcher westlicher Tourist will denn für 40 Minuten in eine Welt hässlicher und überteuerter Seidenbettwäsche und -nachthemden entführt werden. Christina, auch als Freelancerin tätig, ging gleich harsch dazwischen und spielte ihre Rolle weiter. Uns gefielen die vielleicht nicht, das hätte sie jetzt verstanden. Aber 80 % ihrer Kunden freuen sich auf die Fabrikbesuche, fragen sie sogar nach diesem und jenem Stopp. Mich freute nur noch ein Halt, der am architektonisch beeindruckenden Olympiastadion. Gelöst tauchte ich in die chinesischen Menschenmassen ein. Nie freute ich mich mehr, mich in einer Masse so zu verlieren. Denn irgendwie schwirrte noch immer der Gedanke mit, der Staat wird Dich dafür strafen. Big Brother is watching you.

Begleitet uns auf unserer Reise unter dem Hashtag #puriygoeseast

Zum Teil 1: Moskau – Wo russische Märchen beginnen.
Zum Teil 2: Hop on, hop off und manchmal geht gar nichts … Moskau Teil 2
Zum Teil 3: Missverständnisse und der Luxus Bahnreisender. Transsib Teil 1
Zum Teil 4: Nach Asien auf dem Landweg. Transsib Teil 2. Jekaterinburg und die Fahrt nach Krasnojarsk
Zum Teil 5: Durch Sibirien. Transsib Teil 3
Zum Teil 6: Am Baikalsee. Transsib Teil 4
Zum Teil 7: Irkutsk – das Paris des Ostens? Transsib Teil 5
Zum Teil 8: Über Ulan-Udè, Bator und unseren letzten Tag in Russland. Transsib Teil 6
Zum Teil 9: Zug Nummer 4 – und einmal durch die Mongolei. Transsib Teil 7
Zum Teil 10: Datong und die Tour mit den Touren. Transsib Teil 8
Zum Teil 11: Peking – wo Drachen in den Himmel steigen.
Zum Teil 12: Im Dunstkreis der Mauer oder 40 Minuten verschwendete Lebenszeit

Auf unserer Reise werden wir durch Lernidee unterstützt, aber nicht bei der oben beschriebenen Tour 😉 Alle Ansichten sind unsere eigenen.

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